Industrieorientierte Ausbildungen in Drittländern
Erste Ergebnisse aus dem Projekt «Skills-for-Industry»
Das gewachsene Interesse der Entwicklungszusammenarbeit an der Berufsbildung führte in den letzten Jahren auch zu einer Zunahme von Projekten und Programmen, mit denen Industrieausbildungen unterstützt wurden. Es ist jedoch wenig darüber bekannt, inwiefern solche Trainingsprogramme mit positiven Veränderungen in Unternehmen – sei es eine Veränderung der Arbeitsorganisation, eine Steigerung der Produktivität oder mehr Wachstum – in Beziehung stehen. Vor diesem Hintergrund untersucht das Projekt die Faktoren, welche Ausbildungsprojekte mittels Transformation von Arbeitsprozessen einen Beitrag zu inklusivem industriellem Wachstum leisten. Es zeigt unter anderem, dass eine durch viele Geber vorangetriebene, angebotsorientierte Ausrichtung von Berufsbildung auf niedrige Qualifikationsniveaus zwar auf dem Papier löblich ist. Sie ist allerdings problematisch, wenn die Ausgebildeten von den Unternehmen dann nicht nachgefragt werden.
Nach längerer Abwesenheit ist Berufsbildung1 in der letzten Dekade wieder stärker in den Fokus der internationalen Entwicklungszusammenarbeit gerückt (Hollander & Mar, 2009; King, 2013). Aus Schweizer Sicht unterstützt die DEZA aktuell 71 Projekte weltweit in diesem Themenfeld.2 Berufsbildung soll dabei eine ökonomisch-soziale Doppelfunktion erfüllen, einerseits die Bereitstellung von qualifizierter Arbeitskraft für Unternehmen, damit diese ihre Produktions- und Arbeitsprozesse effektiv gestalten können und andererseits die Integration von (jungen) Menschen in den Arbeitsmarkt und die Gesamtgesellschaft (Jäger, Maurer & Fässler, 2016; SDC, 2019). In den mitteleuropäisch dualen Systemen wird Berufsbildung oftmals ergänzend ein weitere Schlüsselfunktion zugesprochen: Einen Beitrag zur Persönlichkeitsentwicklung des Lernenden zu leisten (Brater, 2020).
Das «Skills-for-Industry»-Projekt untersucht das Zusammenspiel von Ausbildungsprojekten und inklusivem, industriellem Wachstum in sechs Entwicklungs- und Schwellenländern. Dabei geht es nicht zuletzt um jene Faktoren, die dieses Verhältnis positiv oder negativ beeinflussen.
Blinde Flecken der internationalen Berufsbildungsforschung
Internationale Studien zur Berufsbildung (in Entwicklungsländern) haben sich bisher vorrangig auf die soziale Funktion konzentriert. Dies beinhaltet sowohl die Frage, welche Personengruppen Zugang zu Ausbildungen haben als auch die Frage, inwieweit eine abgeschlossene Berufsbildung mit einem individuellen positionellen Aufstieg – sei es in Form von Gehalt oder Anerkennung – einhergeht.3
Das «Skills-for-Industry»-Projekt erweitert die Perspektive und versucht beide oder besser: alle drei Zielsetzungen in den Blick zu bekommen. Dem zu Grunde liegt die Annahme, dass sich die soziale und die ökonomische Funktion von Berufsbildung zwar analytisch trennen lassen, in praktischen Belangen beides jedoch eng verzahnt ist. Ebenso hängt die individuelle Persönlichkeitsentwicklung der Arbeitnehmer partiell davon ab, inwiefern erlernte Fähigkeiten im Beruf abgefragt und angewandt werden. Diese Verzahnung findet genau an jenem Ort statt, den die internationale Berufsbildungsforschung bisher weitestgehend vernachlässigt hat: im Unternehmen.
Nexus aus Berufsbildung, Transformation und Wachstum auf Betriebsebene
Ein Kernanliegen des laufenden Forschungsprojekts ist es zu verstehen, wie Berufsbildung mit Arbeitsorganisation und technologischen Wandel im Produktionsprozess zusammenspielen kann, um Unternehmenswachstum sicher zu stellen und ein inklusiveres Arbeitsumfeld zu schaffen. Darüber hinaus ergründen wir, welche internen und -externen Faktoren dieses Beziehungsgeflecht modulieren. Fünf vorläufige, von unseren ersten Daten gestützte Indizien zu diesem Nexus werden nachfolgend thematisiert.
Das Zusammenspiel von Training, Arbeitsorganisation und technologischem Wandel folgt allgemein keiner monodirektionalen Wirkungskette und ist von komplexen Feedbackschleifen durchzogen. So kann es sein, dass die Anstellung von gut ausgebildeten Fachkräften kollektive Effekte für Arbeitsorganisation, Produktivität oder Fachwissen mit sich bringt. Beispielsweise implementierte die GIZ in den letzten zwei Jahren in Bangladesch ein Programm, in welchem Personen des mittleren Managements hinsichtlich Nachhaltigkeit in der Produktion geschult wurden.4 Die Erwartung war hier, dass die berufliche Weiterbildung von einzelnen Fachkräften zu ökologischen Verbesserungen im Gesamtunternehmen führt. Es ist jedoch ebenfalls möglich – und vielleicht häufiger anzutreffen –, dass technologischer Wandel oder organisatorische Umstrukturierungen in Unternehmen zu einem anderen Bedarf an Fähigkeiten und Qualifikationen auf der Ebene der Angestellten führen. Man mag sich vorstellen, dass die Anschaffung einer CNC-Fräse basale Programmierfähigkeiten erfordert, die vorher nicht notwendig waren oder dass Arbeit in kleinen Teams erweiterte soft skills voraussetzt.5
Berufsbildung ist unterschiedlich relevant für verschiedene Jobs und Positionen in den Unternehmen.In einigen der untersuchten Industrien und Länder existieren per se schon keine Programme, die sich an Arbeitskräfte auf niedrigen Qualifikationsniveaus richten (bspw. in der Textilindustrie in Kambodscha). In anderen Ländern – wie etwa Bangladesch oder auch Laos – haben Unternehmen im Textilsektor in vielen Fällen kein Wissen über die Qualifikationen ihrer Näherinnen. Rekrutierung von Arbeitskräften läuft dort über simple Tests, gegebenenfalls ergänzt durch wenige Tage on-the-job trainings. Selbst wenn es Ausbildungsprogramme gibt, die sich an niedrigere Qualifikationsniveaus richten (z.B. an Fliessbandarbeiter in der Elektroindustrie), zeichnet sich ab, dass diese zum einen weniger relevant für Unternehmen sind und dadurch zum anderen eine wesentlich schwächere Verbindung zu Transformation und Wachstum besitzen als etwa Projekte, die sich auf die Ausbildung von Technikern konzentrieren.
Unternehmen des herstellenden Gewerbes sind ab einer gewissen Grösse nahezu zwangsläufig in internationale Wertschöpfungsketten eingegliedert. Je nach Position und Verbindungen ändert sich qualitativ der Bedarf an qualifiziertem Personal. Es steht die Vermutung im Raum, dass ein enger Zusammenhang zwischen hergestellten Produkten beziehungsweise Exportmarkt und nachgefragter Arbeitnehmerqualifikation besteht. Für Südafrika lässt sich anhand unserer Daten zeigen, dass Unternehmen im Automobilsektor mit einer hohen Exportorientierung ein positiveres Verhältnis zu Berufsbildung haben als Unternehmen, die Kleidung herstellen und den nationalen Markt beliefern. Dies reicht von einer generellen Wertschätzung bis hin zu Engagement in der Ausbildung selbst.
Berufsbildungsprogramme und Unternehmen sind in einen soziohistorischen, institutionellen Kontext eingebettet, welcher bei der Analyse des umrissenen Beziehungsgeflechts zwischen Berufsbildung und Transformation/Wachstum mitgedacht werden muss. In westlichen Ländern haben Berufsbildungssysteme eine lange Tradition und sind parallel mit spezifischen Werten und Normen entstanden (Streeck, 1989; Thelen, 2004). Dementgegen finden sich in unseren Partnerländern in der Tendenz eher Systeme, die einen Reissbrett-Charakter haben und nicht organisch über Dekaden gewachsen sind. Dies hat beispielweise Konsequenzen für die Reputation von Berufsbildung, aber auch für den Adressatenkreis von Lernenden. Der Ursprung des jetzigen vietnamesischen Berufsbildungssystems lässt sich grob auf 1997 datieren, mit einer grossen Umstrukturierung 2015. Berufsbildung ist in Vietnam vorrangig eine Option für Jugendliche aus ländlichen Regionen oder benachteiligten Gruppen – die urbane Mittelschicht schickt ihre Kinder an Universitäten oder direkt ins Ausland.
Ansprüche an die Implementierung von Berufsbildungsmassnahmen unter Gesichtspunkten der Inklusivität erweisen sich als schwierig zu erfüllen. Es wurde bereits angedeutet, dass Berufsbildung eine sozial integrierende Funktion verfolgt. Im Rahmen der Entwicklungszusammenarbeit bedeutet dies aus Sicht vieler Geber vor allem die Förderung und Sozialintegration von vulnerablen und benachteiligten Gruppen. Eine weitere Dimension von Inklusivität, wie sie vorrangig in den development studies diskutiert wird, betrifft Fragen der Güte des Arbeitsverhältnisses und des empowerment von Individuen (Klasen, 2010; Ramos & Ranieri, 2013). Wenn es richtig ist, dass Berufsbildung unterschiedlich relevant für verschiedene Jobs und Positionen in den Unternehmen ist und insbesondere niedrigere Qualifikationsniveaus nicht bedient respektive nachgefragt werden, dann stellt sich zwangsläufig die Frage, nach Verdrängungseffekten. Ebenso bleibt offen welche Aspekte von Inklusivität durch Berufsbildung in Entwicklungs- und Schwellenländern adressiert werden können.
Erste Konsequenzen für die Berufsbildung in der internationalen Entwicklungszusammenarbeit
Es ist wichtig festzuhalten, dass all die beschriebenen Ergebnisse vorläufige Indizien sind. Trotzdem zeichnen sich zwei bedeutende Konsequenzen für Berufsbildung in Entwicklungs- und Schwellenländern ab. Erstens, ist eine durch viele Geber vorangetriebene, angebotsorientiere Ausrichtung von Berufsbildung auf niedrige Qualifikationsniveaus, einhergehend mit vulnerablen Gruppen als Hauptadressaten, zwar auf dem Papier im Rahmen der Armutsbekämpfung löblich, allerdings praktisch problematisch, wenn entsprechend Ausgebildete von den Unternehmen nicht nachgefragt werden. Zweitens, scheint es aus nationaler Sicht sinnvoll und erfolgsversprechend zu sein Berufsbildungsinitiativen an spezifische Industriezweige oder auch Wertschöpfungsketten zu koppeln – bestenfalls unterstützt durch eine entsprechen industrial policy – und nicht zwangsläufig allumfassende Berufsbildungsreformen voranzutreiben.
1 Wenn in diesem Beitrag von Berufsbildung gesprochen wird, geschieht dies in einem sehr weiten Verständnis. Wir benutzen, wie auch die DEZA (SDC 2019), das Konzept des vocational skills developments (VSD), welches nicht nur die formale Berufsbildung miteinschliesst, sondern auch informelle Ausbildungsprogramme auf Betriebsebene oder Hochschulkurse mit eindeutiger Industrieorientierung (beispielsweise für Elektroingenieure).2 Siehe hierzu auch: DEZA Projektdatenbank
3 Als Beispiel liesse sich an dieser Stelle die einflussreiche Studie von Psachoropoulos und Loxley (1985) zu individuellen und sozialen Gewinnen von Berufsbildung in Tansania und Kolumbien anführen. Aktuelleren Datums wären etwa Untersuchungen von Attanasio et al. (2008) ebenfalls in Kolumbien oder von Chakravarty et al. (2016) in Nepal zu nennen. Die letztgenannten thematisieren auch die soziale Integration von benachteiligten Gruppen.
4 Siehe hierzu: German-Bangladesh Higher Education Network for Sustainable Textiles (HEST)
5 Derzeit erlebt die Diskussion um upskilling/deskilling – also ob technologischer Wandel zu einer De- oder erhöhten Qualifizierung von Arbeitskräften führt – im Rahmen der Industrie 4.0 Entwicklungen eine Renaissance im politischen und gesellschaftlichen Diskurs. Bezeichnenderweise ist die empirisch akademische Auseinandersetzung mit diesem Themengebiet weitestgehend versiegt. Die Hochzeiten der wissenschaftlichen Debatte lassen sich auf die 70er und 80er Jahre datieren (Braverman, 1974; Buroway, 1979; Buroway, 1985).
Literatur
- Attanasio, O., Kugler, A., & Meghir, C. (2008). Training disadvantaged youth in Latin America: evidence from a randomized trial. Cambridge MA: National Bureau of Economic Research.
- Brater M. (2020) Berufsbildung und Persönlichkeitsentwicklung in der historischen Dimension. In: Arnold R., Lipsmeier A., &
- Rohs M. (eds) Handbuch Berufsbildung. Wiesbaden: Springer VS.
- Braverman, H. (1974): Labor and monopoly capital. The degradation of work in the twentieth century. New York: Monthly Review Press.
- Burawoy, M. (1979): Manufacturing Consent. Chicago: University of Chicago Press.
- Burawoy, M. (1985): The Politics of Production. London and New York: Verso.
- Chakravarty, S., Lundberg, M. K. A., Danchev, P. N., & Zenker, J. (2016). The role of training programs for youth employment in Nepal: impact evaluation report on the employment fund. Washington DC: World Bank Group
- Hollander A., Mar N.Y. (2009) Towards achieving TVET for all: The role of the UNESCO-UNEVOC International Centre for Technical and Vocational Education and Training. In: Maclean, R., & Wilson, D. (eds) International Handbook of Education for the Changing World of Work. Dordrecht: Springer.
- Jäger, M., Maurer, M., & Fässler, M. (2016). Exportartikel Berufsbildung? Internationale Bildungszusammenarbeit zwischen Armutsreduktion und Wirtschaftsförderung. Bern: hep.
- King, K. (Ed.) (2013). 2012: The year of global reports on TVET, skills & jobs. Consensus or diversity? Geneva: Norrag.
- Klasen, S. (2010). Measuring and monitoring inclusive growth: multiple definitions, open questions, and some constructive proposals (No. 12; ADB Sustainable Development Working Paper Series). Manila: Asian Development Bank.
- Psacharopoulos, G., & Loxley, W. (1985). Diversified secondary education and development: evidence from Colombia and Tanzania. Baltimore: John Hopkins University Press.
- SDC (2019). Understanding and analysing vocational education and training systems – An introduction (WP revision 25.04.2019). Berne: SDC.
- Ramos, R. A., & Ranieri, R. (2013). Inclusive growth: Building up a concept (No. 104; Working Paper). Brasilia: International Policy Centre for Inclusive Growth (IPC-IG).
- Streeck, W. (1989). Skills and the limits of neo‐liberalism: The enterprise of the future as a place of learning. Work, Employment and Society, 3: 89–104.
- Thelen, K. (2004). How institutions evolve: the political economy of skills in Germany, Britain, the United States, and Japan. Cambridge: Cambridge University Press.
Zitiervorschlag
Maurer, M., & Teutoburg-Weiss, H. (2020). Erste Ergebnisse aus dem Projekt «Skills-for-Industry». Transfer. Berufsbildung in Forschung und Praxis 5(1).