Berufsbildung in Forschung und Praxis
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Dritter Anlass aus der «Themenreihe Berufsbildung» an der PH Zürich

Handlungskompetenzen und Lernortkooperation: Mehrwert oder nur Mehraufwand?

Die konsequente Umsetzung der Handlungskompetenzorientierung verlangt von allen Lernorten erhebliche Anpassungsleitungen – auch was die Abstimmung unter ihnen betrifft. Am dritten Anlass der «Themenreihe Berufsbildung» an der PHZH waren sich alle Gäste einig: Das Thema Kooperation hat noch Luft nach oben; dabei würde sich eine vermehrte Abstimmung der Lernprozesse lohnen.


Die drei Lernorte haben sich seit ihrer gesetzlichen Festschreibung vor knapp hundert Jahren entlang ihrer eigenen Logiken weiterentwickelt. Mit dem Einzug der Handlungskompetenzorientierung wurde die verstärkte Kooperation aber zur verpflichtenden Aufgabe. Ausbildungsinhalte müssen nun stärker aufeinander abgestimmt werden, damit Handlungskompetenzen aufgebaut werden können. Mit dieser Zielperspektive verschiebt sich die Zusammenarbeit der Lernorte in Anlehnung an Euler (1999) vermehrt vom reinen Informieren hin zum gegenseitigen Abstimmen und zum lernortübergreifenden Zusammenwirken.

Aktive Sozialberufe

Massnahmen wie eine stärkere Verknüpfung von Arbeits- und Lernkontexten oder die Integration der Lerndokumentation im überbetrieblichen Kurs (üK) in die des Betriebs sollen zukünftig für eine noch stärkere Verzahnung sorgen.

Reto Fischer, Leiter Bildung bei der OdA Sozialberufe Zürich, zeigte auf, welches Gewicht sein Berufsverband der Lernortkooperation einräumt. Es wurde dafür eigens eine lernortübergreifende Kommission geschaffen. Basis für ihre Arbeit ist eine GAP-Analyse, die den Handlungsbedarf in den verschiedenen Aspekten aufzeigt. Beispielhaft ging Reto Fischer auf die methodisch-didaktischen Ansätze ein, bei der sich auf der Ebene der gegenseitigen Information bereits eine gute Zusammenarbeit zwischen den Lernorten etabliert hat. Massnahmen wie eine stärkere Verknüpfung von Arbeits- und Lernkontexten oder die Integration der Lerndokumentation im überbetrieblichen Kurs (üK) in die des Betriebs sollen zukünftig für eine noch stärkere Verzahnung sorgen.

Der Aspekt der personellen Vernetzung soll mit verschiedenen Austauschgefässen, aktiv bewirtschafteten Informationskanälen und lernortintegrierenden Weiterbildungsveranstaltungen gestärkt werden. Im Besondern wies Reto Fischer auf das neue Angebot «Berufsbildungs-Guide FaBe» hin. Bei diesem lernortunabhängigen Unterstützungsangebot erhält man per Hotline oder Chat unmittelbare Beratung rund um das Thema Ausbilden.

Akuten Bedarf sieht Reto Fischer beim Aspekt Lernmanagementsystemen. Hier drängt sich bei der nächsten Revision eine gemeinsame digitale Plattform auf.

Im Anschluss an Reto Fischer wies Monika Rossi, die am Bildungszentrum Zürichsee in Horgen die sozialen Berufe verantwortet, darauf hin, dass bereits der Umstand, eine Schule mit drei Standorten zu führen, Kooperationsleistungen verlangt. Die Einhaltung der im Leitbild festgeschriebenen und in der Schule gelebten Werte Verlässlichkeit, Transparenz und Verlässlichkeit leisten einen wichtigen Beitrag in der Zusammenarbeit mit den Betrieben. Sie ermöglicht den niederschwelligen, gegenseitigen Austausch, rege genutzte Betriebsbesuche und gut besuchte Anlässe für die Berufsbildenden. Im Unterricht fördert das Kooperationsprojekt BULG (Bildungs- und Lerngeschichten) den Praxisbezug. In diesem etablierten und ressourcenorientierten Beobachtungs- und Dokumentationsverfahren werden Situationen aus dem betrieblichen Alltag im Unterricht explizit mit Einbezug von Theorie bearbeitet.

Monika Rossi plädiert dafür, die Trennschärfe der drei Lernorte und ihrer spezifischen Didaktiken zu erhalten; gleichzeitig wünscht sie sich, dass es den Lernenden vor allem in der Abschlussphase ihrer Ausbildung gelingt, die verschiedenen Zugänge zu den Handlungskompetenzen zusammenzubringen.

Lernortkooperationen im Detailhandel

Mit der Umsetzung der letzten Reform entwickelte Coop einen Lernpfad, der sich auf alle Grundbildungen anwenden lässt. Die Handlungskompetenzen werden vor allem mit den Praxisaufträgen erarbeitet, in die alle drei Lernorte eingebunden sind.

Rico Largiadèr, Rektor der Berufsschule für Detailhandel und Pharmazie Zürich, führte aus, dass seit der letzten Reform die Ansprüche an die Lernortkooperation im Berufsfeld Detailhandel deutlich gestiegen sind. Deshalb wurde im Rahmen des mit der Reform verbundenen Organisationsentwicklungsprozesses ebenfalls eine Arbeitsgruppe zum Thema Lernortkooperation geschaffen, die aus allen drei Lernorten besteht. Ähnlich wie am Bildungszentrum Zürichsee unterstützen Informationsveranstaltungen und Besuchswochen für Betriebe den Austausch.

Solche Anlässe sind insbesondere für Lehrpersonen des allgemeinbildenden Unterrichts von Interesse, da diese nun vermehrt praxis- und handlungskompetenzorientiert unterrichten müssen und dort Einblicke in das Berufsfeld gewinnen. Die Schule denkt über Stages nach, die Lehrpersonen alle paar Jahre für einige Tage in der Praxis absolvieren sollen.

Milutin Tesic ist Leiter Lernendenbetreuung bei Coop für die Regionen Nordwestschweiz, Zentralschweiz und Zürich. Für ihn stellt sich die Frage nach der Lernortkooperation im Detailhandel in Anbetracht der vielen Berufe und Firmen, die unter dem Dach eines Grossunternehmens sind, nochmals anders. Er bezeichnet denn seine Stelle auch als das «interne Berufsbildungsamt» von Coop, das in seinen Regionen etwa 680 Lernende in 12 Berufen betreut.

Mit der Umsetzung der letzten Reform entwickelte Coop einen Lernpfad, der sich auf alle Grundbildungen anwenden lässt. Die Handlungskompetenzen werden vor allem mit den Praxisaufträgen erarbeitet, in die alle drei Lernorte eingebunden sind. Eine wichtige Rolle spielt dabei die gemeinsame digitale Lernplattform, auf der Lernende ihren Lernstand, die Rückmeldungen der anderen Lernorte und den weiteren Verlauf ihrer Ausbildung einsehen können.

Damit die verstärkte Zusammenarbeit der Lernorte gelingt, muss sich bei den über 2‘000 Berufsbildnern eine Haltungsänderung etablieren, die sich den Austausch mit den Schulen und ük nicht gewohnt sind. Dieser Prozess braucht Zeit und von allen Verantwortlichen den Mut, Berufsbildende und Lernende ihre eigenen Erfahrungen machen zu lassen.

Das schulische integrierte Modell

Markus Hitz, Direktor der Mechatronikschule in Winterthur (MSW), vertritt mit 180 Lernenden in drei Berufen eine kleinere Institution. Gerade dies sowie die Tatsache, dass alle drei Lernorte unter einem Dach sind, macht es der MSW einfacher, die Lernortkooperation mit wenig Reibungsverlust umzusetzen. Kurze Wege, der tägliche Austausch und die gemeinsamen Lehrplantagungen mit allen Lernorten machen eine enge Abstimmung möglich.

Die drei Berufe Polymechanikerin, Elektroniker und Automatikerin stecken zusammen das Wirkungsfeld der Mechantronik ab und ergänzen sich dementsprechend in vielen realen Projekten. Markus Hitz spricht in diesem Zusammenhang auch von Berufskooperationen. Die Lernenden nehmen von Beginn weg immer wieder Einblick in die anderen beiden Berufe und entwickeln so ein ganzheitliches Verständnis des Berufsfelds.

Podiumsdiskussion

Ein erster wichtiger Schritt in Richtung vermehrter Lernortkooperation wäre es bereits, wenn die Betriebe nachfragen würden, was die Lernenden in Schule und üK bearbeitet haben, um darauf Bezug nehmen zu können.

Im anschliessenden Podiumsgespräch stellt Markus Maurer zunächst zur Diskussion, was von den Betrieben aufgrund ihrer knappen Ressourcen in Bezug auf die Lernortkooperation bezüglich Mehraufwand zu erwarten ist. Milutin Tesic hält dafür das Verständnis aller Beteiligten für diese Investition und den frühen Einbezug der Betriebe in die Lernortkooperation für zentral. Reto Fischer gab zu bedenken, dass es in den Sozialberufen mit über 1’000 Lehrbetrieben nicht einfach sei, ein gemeinsames Verständnis für Lernortkooperationen zu entwickeln. Er räumt ein, dass zwar ein Initialaufwand zu leisten sei, dass sich dieser aber in einer besseren Qualität und Effizienz in der Ausbildung bemerkbar mache. Als Beispiel gelebter Ineffizienz erwähnte er den Umstand, dass es Schultage an der Berufsfachschule gibt, die auf einen Termin im üK fallen. Ein erster wichtiger Schritt in Richtung vermehrter Lernortkooperation wäre es bereits, wenn die Betriebe nachfragen würden, was die Lernenden in Schule und üK bearbeitet haben, um darauf Bezug nehmen zu können.

Könnte die Lernortkooperation von den Lehrpersonen an den Schulen aufgrund der Abstimmungspflichten nicht auch als Einschränkung wahrgenommen werden? Monika Rossi findet, dass die früheren Gestaltungsmöglichkeiten in der Bildungsplanung zwar weggefallen sind bzw. pro Semester weitgehend vorgegeben werden. Als Einschränkung erlebt sie das allerdings nicht, im Gegenteil: Mit der Orientierung an der Handlungskompetenzorientierung werde es möglich, auch andere Fachgebiete miteinzubeziehen. Diese Verknüpfung mache eher den Lernenden Schwierigkeiten, da sie die Herkunft der Wissensbestände nicht mehr den Lernorten zuordnen können.

Reto Lagàrder erlebt die Pflicht zur Koordination im Detailhandel nicht als Einschränkung. Die Handlungskompetenzorientierung sei nicht neu und die erhöhten Ansprüche an die Koordination seien eher graduell und nicht prinzipiell. Bedarf ortet Lagàrder eher bei der Orientierung an der beruflichen Praxis. Für Verkaufsgespräche brauche es vermehrt Profis mit praktischer Erfahrung; eine akademische Ausbildung reiche dafür nicht. Er sieht darin eine Chance, die Gegensätze zwischen Allgemeinbildung und Berufskunde aufzuweichen.

Markus Hitz nahm Stellung zur Frage, welche Auswirkungen die anstehenden Reformen in den Maschinen-, Elektro- und Metall-Industrie (MEM-Industrie) auf das Konzept seiner Schule haben werden. Für ihn spielt die konsequente Ausrichtung an der Handlungskompetenzorientierung den technischen Berufen in die Hände. Ihnen falle es aufgrund eines gemeinsamen Produktverständnisses leicht auf eine Fächerstruktur zu verzichten und vermehrt praxisorientiert auszubilden. Die übersichtliche Grösse der MSW erleichtere zudem die Umsetzung, und das sorgfältige Vorgehen im Projekt FutureMEM[1] sorge dafür, dass auch die Interessen der MSW in die anstehende Reform einfliessen können.

Aus dem Publikum kam die Frage, welches denn die Erfolgsfaktoren von lernortintegrierenden Transferaufträgen sein könnten, wenn die Handlungskompetenzorientierung eine gemeinsame Zielperspektive für alle Beteiligten ermöglichen soll. Reto Fischer hielt fest, dass man bei den Sozialberufen diesbezüglich noch am Anfang stehe, Transferaufträge würden zunächst pilotiert und dann Schritt für Schritt ausgebaut. Der damit verbundene Mehraufwand müsse im Auge gehalten behalten werden, wenn man die Beteiligten nicht überfordern und die Machbarkeit der einzelnen Schritte sicherstellen wolle.

Auf die Bemerkung einer Vertretung aus den Gesundheitsberufen, dass der vorstrukturierte Semesterplan als Entlastung erlebt werde, erwiderte Reto Fischer, dass die Vorgabe noch viel Spielraum biete, der auch gestaltet werden müsse. Es solle vermieden werden, dass bei den Transferaufträgen der eine Lernort zum Auftraggeber eines anderen Lernorts wird.

[1] Bis ins Jahr 2026 sollen sämtliche heutigen acht technischen MEM-Berufe einer Überprüfung unterzogen und mit den für die Zukunft notwendigen Anpassungen umgesetzt sein. Das Projekt wird ergebnisoffen angegangen, was bedeutet, dass Anpassungen des Ausbildungsmodells und der Berufsstruktur möglich sind.

Erwähnte Literatur

  • Euler, D. (1999). Lernortkooperation in der beruflichen Bildung. Stand und Perspektiven aus Sichtwirtschaftspädagogischer Forschung. In: Harney, K.; Tenorth, H.-E. (Hrsg.): Beruf und Berufsbildung. Beltz, 249–272.

Die Themenreihe Berufsbildung

Die «Themenreihe Berufsbildung» feiert dieses Jahr ihr zehnjähriges Bestehen. Mit jährlich vier Veranstaltungen zu einem Dachthema hat sich das kostenlose Abend-Format, dass die Pädagogische Hochschule Zürich in Kooperation mit der Table Ronde berufsbildender Schulen organisiert, gut etabliert und erreicht ein breites Publikum.

Die nächste Veranstaltung zum Thema Handlungskompetenzorientierung findet am 19. November 2024 in Präsenz auf dem Campus der PH Zürich statt. Thema: «Handlungskompetenzorientierung in der Berufsbildung – gekommen um zu bleiben?» Die Berufsbildung profitiert von einer integrativen Perspektive, bei der Fachinhalte, Berufsfelddidaktik und die Entwicklung von Handlungskompetenzen in einem ausgewogenen Verhältnis zueinander stehen. In welche Richtung geht die weitere Entwicklung? Anmeldung hier.

Die Gäste der dritten Veranstaltung waren:

  • Reto Fischer, Leiter Bildung/Mitglied der Geschäftsleitung, OdA Sozialberufe Zürich
  • Markus Hitz, Direktor Mechatronikschule Winterthur (MSW)
  • Rico Largiadèr, Rektor Berufsschule für Detailhandel und Pharmazie Zürich
  • Monika Rossi, Leiterin Abteilung Soziale Berufe, Bildungszentrum Zürichsee (BBZ), Horgen
  • Milutin Tesic, Leiter Lernendenbetreuung Region Nordwestschweiz-Zentralschweiz-Zürich, Coop
  • Markus Maurer, Professur Berufspädagogik, PHZH
Zitiervorschlag

Schneebeli, R. (2024). Handlungskompetenzen und Lernortkooperation: Mehrwert oder nur Mehraufwand?. Transfer. Berufsbildung in Forschung und Praxis 9(14).

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