Berufsbildung in Forschung und Praxis
Herausgeberin SGAB Logo

EHB-Workshop

Wagen wir zu träumen…. Utopien für die Berufsbildung der Zukunft

Könnte ein schulisches Basislehrjahr für alle die Berufsbildung stärken? Sind Fachmittelschulen Teil des berufsbildenden Systems? Hat die Handlungskompetenzorientierung die Rolle der Berufsfachschule geschwächt? Solche Fragen standen im Zentrum des VET Winterworkshops der EHB vom 2. Februar 2024. Rund 50 Forscherinnen sowie Akteure der Berufsbildung diskutierten Utopien zur Entwicklung des schweizerischen Berufsbildungssystems.


In den letzten Jahren wurden daher vermehrt Stimmen laut, die nicht nur tiefgreifendere Veränderungen im Bildungs- oder Berufsbildungssystem, sondern auch eine längerfristige Vision einforderten.

Das Bildungssystem in der Schweiz, mit einer starken Rolle der Berufsbildung, erfährt derzeit grosse nationale und internationale Anerkennung. Dieser Erfolg führt dazu, dass gerade das Berufsbildungssystem gerne als Vorbild verstanden wird, das «kopiert» und sogar «exportiert» werden kann. Betrachten wir international vergleichende Indikatoren, scheint das System in der Schweiz tatsächlich sehr gut zu funktionieren.

Um dies zu erreichen, hat das Bildungssystem der Schweiz zahlreiche Veränderungen und Reformen durchlaufen, die seit dem 19. Jahrhundert den Grundstein für das gelegt haben, was ab 2006 als «Bildungsraum Schweiz» bezeichnet wird. Diese Veränderungen und Reformen zeichnen sich bei genauerem Hinsehen durch eine Politik der kleinen Schritte aus. Es ist ein Paradebeispiel dafür, was in der Literatur als «incremental changes» bezeichnet wird: eine Entwicklung, die nicht durch radikale Reformen geprägt ist, sondern auf Bestehendem aufbaut und dieses schrittweise anpasst und justiert.

Eine solche Politik der schrittweisen Anpassungen wird im Bereich der Berufsbildung deutlich, wenn man das Programm «Berufsbildung 2030» betrachtet. Die unter diesem Label zusammengefassten Initiativen sind unerlässlich, um punktuelle Probleme des Systems zu beheben und so zu seiner permanenten Erneuerung beizutragen. Diese Initiativen haben jedoch gleichzeitig eine beschränkte Reichweite. Sie sind unerlässlich, um gewisse Probleme zu lösen, scheinen aber trotz des Anspruchs nicht zu einer langfristigen Vision für die Berufsbildung in der Schweiz zu führen.

In den letzten Jahren wurden daher vermehrt Stimmen laut, die nicht nur tiefgreifendere Veränderungen im Bildungs- oder Berufsbildungssystem, sondern auch eine längerfristige Vision einforderten. Eine solche langfristige Vision für das Bildungssystem in der Schweiz kann aber nur entstehen, wenn man sich – und sei es nur für einen Augenblick – von den finanziellen Bedenken oder der derzeitigen politischen Akzeptanz der vorgeschlagenen Massnahmen löst. Nur so wird es möglich, Entwicklungslinien aufzuzeigen die Hinweise darauf geben können, in welche Richtung wir unser Bildungssystem entwickeln wollen, und die so unsere Entscheidungen in den nächsten 30 oder sogar 50 Jahren leiten können. Mit anderen Worten: Was wir brauchen, sind «Utopien» für die Berufsbildung und ganz allgemein für das Bildungssystem in der Schweiz.

Eine Utopie in ihrem traditionellen Verständnis ist die Projektion einer zukünftigen Möglichkeit auf der Grundlage einer gründlichen Kritik der gegenwärtigen Situation. Interessant dabei ist, dass sich die Formulierung dieser zukünftigen Möglichkeit(en) vom Problem ihrer konkreten Umsetzung befreien kann. Sie kann vielmehr eine allgemeine Richtung anzeigen, in die wir unsere Gesellschaft gerne entwickelt sehen würden. Utopien zeugen von unserer Kreativität und sind eine Grundlage für gesellschaftliche Innovation. Auf Utopien zu verzichten hiesse auch, die Möglichkeit aufzugeben, Dinge anders zu denken, sie zu verändern und zu verbessern. Ein «Ende der Utopien», wie es in den 1990er-Jahren diskutiert wurde, wäre damit ein tiefgreifender Verlust für unsere Gesellschaft zur langfristigen Entwicklung unseres Bildungssystems.

Fünf Forschende aus drei verschiedenen Sprachräumen im In- und Ausland haben für die zweite Auflage des VET Winterworkshops an der EHB ihrer Kreativität freien Raum gelassen und ihre Gedanken mit dem Publikum geteilt (Details Kastentext unten). Aus den Interventionen und Diskussionen haben sich dabei drei thematische Bereiche herauskristallisiert, die einerseits grundsätzlich offen genug sind zur Entwicklung utopischer Szenarien und die andererseits einen gewissen Handlungsdruck aufweisen, der auf einer fundierten Gegenwartskritik fusst:

  1. der (effektive) Zugang und die (persönliche) Wahl der Ausbildung
  2. das Verhältnis zwischen dualen und schulischen Ausbildungsmodellen innerhalb der Berufsbildung und
  3. die Sicherstellung der Qualität der Berufsausbildung über alle Lernorte hinweg.

1) Zugang und Wahl der Ausbildung

Der Gemeinplatz («topos»), wonach zwei Drittel der Jugendlichen in der Schweiz eine beruflichen Grundbildung wählen, ist in dieser Lesart einseitig oder gar irreführend.

Der Erwerb eines Abschlusses auf der Sekundarstufe II für möglichst alle jungen Erwachsenen gilt als wichtiges bildungspolitisches Ziel in der Schweiz. Da die Umsetzung dieses Ziels bisher nicht erreicht wurde, empfiehlt es sich hier kreative Ideen zu diskutieren.

Wie Nadia Lamamra (EHB) ausgeführt hat, bestehen Utopien daher immer sowohl aus einem «Nicht-Ort» (ou-topos) und einem «idealen Ort» (eu-topos). Gerade idealisierte Beschreibungen zur Situation der Berufsbildung in der Schweiz müssen auf nicht genannte Aspekte, als auf ihre «Nicht-Orte» hin gelesen werden. Der Gemeinplatz («topos»), wonach zwei Drittel der Jugendlichen in der Schweiz eine beruflichen Grundbildung wählen, ist in dieser Lesart einseitig oder gar irreführend. So gibt es eine grosse Varianz in diesem Durchschnittswert zwischen Kantonen und Berufsfeldern. Die «Jugendlichen» stellen gleichzeitig eine sehr heterogene Gruppe dar, die je nach Geschlecht, sozialem Hintergrund oder Aufenthaltsstatus nicht die gleichen Voraussetzungen zu einer «freien Wahl» hat.

Am Workshop wurden dabei eine Vielzahl an Ideen in den Raum gestellt, wie man versuchen könnte, von diesem „Nicht-Ort“ zu einem „idealen Ort“ zu gelangen: eine Anpassung der Rekrutierungspraktiken bei den Betrieben (nicht-diskriminierend aufgrund von Geschlecht und Herkunft), eine erhöhte Wertschätzung (und erweiterte Ausbildung) von Berufsbildungsverantwortlichen, die Vermeidung eines Berufsschocks durch die Stärkung eines schulbasierten Einstiegs in die berufliche Grundbildung sowie eine stärkere gegenseitige Wahrnehmung der Vorteile allgemein- und berufsbildender Wege. Nadia Lamamra hat dazu vorgeschlagen, dass wir zur Stärkung der Strukturen, Diskurse, Praktiken und Akteure die berufliche Grundbildung primär als eine Form der Bildung statt als produktive Arbeit verstehen sollten.

2) Verhältnis von dualer und schulischer Bildung

Viele der diskutierten Utopien einer zukünftigen Berufsbildung betreffen die Rolle der Schule im Rahmen der beruflichen Grundbildung – sei es betreffend die Struktur der Sekundarstufe I (Selektion an der ersten Schwelle), sei es für die Ausbildung der Berufsbildungsverantwortlichen, sei es für die Wahl des passenden Bildungstyps auf der Sekundarstufe II. Raffaella Esposito (PH FHNW) zeigte am Beispiel der berufsbildenden Mittelschulen (IMS, HMS/WMS), dass in den Nischen unseres Bildungssystems Potenziale für visionäre Entwicklungen liegen. Denn wenn die bis heute marginale Bedeutung dieser vollschulischen Formen der beruflichen Grundbildung politisch gewollt ist, liesse sie sich auch durch einen entsprechenden politischen Willen ändern.

Esposito schlägt vor, die Bedeutung der nicht-gymnasialen vollschulischen Ausbildungen auf der Sekundarstufe II (inklusive der allgemeinbildenden Fachmittelschule) als «berufsorientierte Mittelschulen» anders zu denken und als im Verhältnis zur dualen Berufsbildung «gleichwertige, bereichernde und potenzialträchtige Teamplayerinnen» anzuerkennen. Hinsichtlich ihres inklusiven Potenzials auf Individualebene und der Förderung von Fachkräften in Bereichen mit Mangelsituationen auf sozio-ökonomischer Ebene hat dieser Bereich vieles zu bieten.

Vielleicht haben wir mit der Einverleibung von (Handlungs-)Kompetenzorientierung in die berufliche Grundbildung eine Kompetenz-Hierarchie übernommen, die die wesentlichen schulischen Aufgaben zu wenig betont

Auch Markus Maurer (PHZH) hat in erster Linie «von der Schule geträumt», als er an Utopien in der Berufsbildung gedacht hat. Er erinnerte an den eigenständigen Bildungsauftrag der Berufsfachschulen und gab zu bedenken, dass wir vor lauter Utopien nicht vergessen sollten, welches die bewährten Qualitäten in der Aufgabenteilung zwischen den Lernorten sind. Vielleicht haben wir mit der Einverleibung von (Handlungs-)Kompetenzorientierung in die berufliche Grundbildung eine Kompetenz-Hierarchie übernommen, die die wesentlichen schulischen Aufgaben zu wenig betont: Die Vermittlung von Grundlagen- und Fachwissen. Hier erscheint also unterschwellig der Raum für eine Utopie: Die Utopie einer Berufsfachschule, die tatsächlich ihre bildende Rolle wahrnehmen kann. Sie könnte mehr als nur Werkzeuge vermitteln, die direkt in der Arbeitswelt eingesetzt werden können, sondern böte eine umfassende allgemeine und spezialisierte Ausbildung, die die Grundlage für die berufliche und soziale Integration bilden kann.

3) Sicherstellung der Qualität der Berufsausbildung

Im Rahmen von «Europäischen Zentren der beruflichen Exzellenz» suchen lokale Akteure aus denselben Berufsfeldern in verschiedenen europäischen Ländern gemeinsam nach Lösungsansätzen für Herausforderungen wie die Digitalisierung und die grüne Transformation.

Die Sicherstellung der Qualität der Berufsbildung an allen Lernorten kann gewissermassen als übergeordnete Utopie verstanden werden. Deren Umsetzung lässt sich im Kleinen (z.B. durch die Ausbildung von Berufsbildungsverantwortlichen oder eine Stärkung bislang marginalisierter Schultypen), aber auch in grösseren Formen konkretisieren. Lukas Graf (EHB) stellte am Beispiel der «Europäischen Zentren der beruflichen Exzellenz» die Vision eines europäischen Berufsbildungsmodells vor, das weniger bürokratisch und weniger von Standardisierungsfragen geprägt ist. Vielmehr soll sich hier ein dezentral vernetztes Berufsbildungsökosystem entwickeln können. Lokale Akteure aus denselben Berufsfeldern in verschiedenen europäischen Ländern suchen dabei gemeinsam nach Lösungsansätzen für eine Qualitätssicherung von Herausforderungen wie die Digitalisierung und die grüne Transformation.

Als Ergänzung zu dieser internationalen Perspektive zeigte die Aussenperspektive auf «schweizerischen Utopien» des spanischen Berufsbildungsforschers Fernando Marhuenda (Universität Valencia ES), wie die Kleinräumigkeit der Schweiz durchaus den Vorteil haben kann, Utopien auch einmal im Kleinen auszuprobieren: sei es in der Kooperation der Lernorte oder im Umgang mit Fragen der Nachhaltigkeit oder der Digitalisierung. Die Schweiz wird oft als eine Insel innerhalb Europas dargestellt, so Lamamra. Wenn wir dieser Metapher etwas Positives abgewinnen wollen, dann im Sinne eines Labors, das es uns erlaubt, Utopien zunächst im Kleinen (und vielleicht dann auch im Grossen) praktisch zu wagen. Ein «hegemoniales System» wie die Berufsbildung in der Schweiz – so Fernando Marhuenda – brauche keinen Schutz und keinen Schonraum. Vielmehr soll und kann es die Stärke aufbringen, Utopien zu wagen und sich nicht in einer stilisierten Auseinandersetzung mit allgemeinbildenden Ausbildungstypen aufreiben.

Eine Utopie in diesem Sinne meint nicht eine Negation der Gegenwart, sondern eine narrative Beschreibung, und dadurch ein Vorstellbarmachen anderer Zukünfte. Darin liegt eine Kraft zur Veränderung. Utopien sind «Wegweiser», wie das der Historiker Rutger Bregman formuliert hat. Er sagt: «Wie Humor und Satire stösst auch die Utopie die Fenster des Geistes auf.» Die Utopie mache uns wieder hellhörig für die Unzulänglichkeiten und die Ungerechtigkeiten unserer Zeit und gibt uns Perspektiven für gesellschaftlichen Fortschritt.

Wir wollen mit geschärften Sinnen auch im kommenden Jahr die Diskussion um die gesellschaftliche Rolle der Berufsbildung weiterführen. Wenige Themen haben in den letzten Jahren ähnlich viel Kritik und vergleichbare Utopien für die Entwicklung der Berufsbildung erzeugt wie die Frage nach deren «Qualität». Die Qualität in der Berufsbildung wird nächsten Jahr im Zentrum des VET Winterworkshops stehen.

VET Winter Workshop

Wagen wir zu träumen…. Utopien für die Berufsbildung der Zukunft

Die Redebeiträge des Workshops:

  • Eine berufliche Grundbildung, die für die ganze Schweiz attraktiv bleibt: Was es dafür bräuchte, Markus Maurer, PHZH
  • «Oh brave new VET, that has such people in it». Entre un monde idéal et un lieu qui n’existe pas, questions ouvertes à la formation duale, Nadia Lamamra, EHB
  • Berufsbildende Mittelschulen als Teil des Schweizer Berufsbildungssystems anders denken – Skizze einer realen Utopie, Raffaella Simona Esposito, PH FHNW
  • Das neue Europäische Modell für die Berufsbildung: eine Utopie?, Lukas Graf, EHB
  • Swiss Utopias: a foreigner’s point of view, Fernando Marhuenda, Universität Valencia
Zitiervorschlag

Ruoss, T., & Bonoli, L. (2024). Wagen wir zu träumen…. Utopien für die Berufsbildung der Zukunft. Transfer. Berufsbildung in Forschung und Praxis 9(6).

Das vorliegende Werk ist urheberrechtlich geschützt. Erlaubt ist jegliche Nutzung ausser die kommerzielle Nutzung. Die Weitergabe unter der gleichen Lizenz ist möglich; sie erfordert die Nennung des Urhebers.