Berufsbildung in Forschung und Praxis
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Workshop zur Diskussion über die Herausforderungen der Berufsbildung

Warum sollte man das «beste System der Welt» kritisieren?

Am 3. Februar empfing die Eidgenössische Hochschule für Berufsbildung (EHB) in Zollikofen rund 50 Forscherinnen und Forscher sowie Akteure der Berufsbildung, um über die Rolle der Kritik bei der Entwicklung des schweizerischen Berufsbildungssystems zu diskutieren. Im Unterschied zu akademischen Konferenzen oder offiziellen Treffen bot dieser Workshop die Gelegenheit, Themen offen zu diskutieren, die in der öffentlichen Debatte oft nur schwer zur Geltung kommen: einerseits das Verhältnis zwischen Berufsbildung und wissenschaftlicher Kritik und andererseits die «Stärken» und «Schwächen» des Schweizer Systems.


Der Workshop erlaubte, eine Reihe von «Blind Spots» zu identifizieren, d.h. Aspekte, die in der Berufsbildungsforschung und in der öffentlichen Diskussion im Allgemeinen nicht ausreichend analysiert und diskutiert werden.

Seit einigen Jahren wird das Schweizer Berufsbildungssystem gerne überschwänglich gelobt. Auf internationaler Ebene wird die Schweiz regelmässig als eines der Länder mit dem besten Berufsbildungssystem genannt. Auf nationaler Ebene geniesst es eine breite Unterstützung über alle Parteigrenzen hinweg. Als vormaliger Bundesrat wurde Johann Schneider Ammann nicht müde zu betonen: «Wir haben das beste System der Welt» (Telegiornale 20.00, RSI: 10.09.2018).

Auf einer anderen Ebene, und ohne dieser Begeisterung unbedingt widersprechen zu wollen, sind Positionen zu vernehmen, die eine gewisse Scheu vor kritischen Stimmen in der öffentlichen und politischen Debatte feststellen. Ist die Kritik am Schweizer Modell eine Art Tabu?

Diese Frage ist nicht so abwegig, wie es scheint.[1] In den letzten Jahren konnte die Berufsbildungsforschung die Funktionsweise des Schweizer Systems immer besser beschreiben und nicht nur Stärken, sondern auch Schwächen aufzeigen. Diese Schwachpunkte sollten in der öffentlichen und politischen Debatte angesprochen und diskutiert werden, um konstruktiv nach Lösungen und Verbesserungen zu suchen. Es ist jedoch festzustellen, dass diese Diskussion in vielen Fällen die akademischen Kreise nicht verlässt und keine breiteren Debatten auslöst. Dabei wird seit dem Berufsbildungsgesetz von 2002 die Berufsbildungsforschung stark gefördert, gerade um eine wissenschaftliche Begleitung des Systems zu entwickeln und seine ständige Weiterentwicklung zu gewährleisten.

Am 3. Februar empfing die Eidgenössische Hochschule für Berufsbildung (EHB) in Zollikofen rund 50 Forscherinnen und Forscher sowie Akteure der Berufsbildung, um über die Rolle der Kritik bei der Entwicklung des schweizerischen Berufsbildungssystems zu diskutieren. Dabei ging es nicht um eine Kritik, mit der etwas «schlecht geredet» werden soll. Unter Bezugnahme auf Kants Konzept der Kritik ging es vielmehr darum, «die Grenzen und die Bedingungen des Möglichen aufzuzeigen». Das ist für die Entwicklung des Fachgebiets von entscheidender Bedeutung.

Im Sinne einer konstruktiven Kritik wurde im Workshop zunächst eine Reihe von «Blind Spots» (vgl. Thomas Meyer, Universität Bern) identifiziert, d.h. Aspekte, die in der Berufsbildungsforschung und in der öffentlichen Diskussion im Allgemeinen nicht ausreichend analysiert und diskutiert werden.

Einer dieser Blind Spots betrifft die Definition der Ziele, die an die Berufsbildung in der Schweiz gerichtet werden. Die Berufsbildung muss in erster Linie wirtschaftliche Anforderungen erfüllen: die Bereitstellung von qualifizierten Fachkräften für die Unternehmen. Gleichzeitig wird von der Berufsbildung aber auch verlangt, dass sie soziale Ziele erfüllt und möglichst viele Jugendliche, darunter auch solche mit schwächeren schulischen Leistungsausweisen, in die Arbeitswelt und in die Gesellschaft integriert. Wie können diese beiden Ziele miteinander verknüpft werden? Hat die schweizerische Berufsbildungspolitik einen Weg gefunden, um sie zu verbinden oder bestehen zwischen diesen Zielen eher Spannungen oder gar Widersprüche?

Wenn wir diese Überlegungen weiterführen, können wir sogar so weit gehen, uns zu fragen, ob die Berufsbildung in der Lage ist, die zukünftigen Herausforderungen im Zusammenhang mit der Klimakrise zu meistern, gerade weil die Bedürfnisse der Unternehmen einen so starken Einfluss ausüben. Diese Klimakrise hat ihren Ursprung in einer bestimmten kapitalistischen Logik der Ausbeutung der Natur, die den «Zirkel zwischen Produktivität, Wettbewerbsfähigkeit und Wachstum» (vgl. Fabio Merlini, EHB) reproduziert.

Ein zweiter angesprochener Blind Spot betrifft die Frage, welche Kriterien wir berücksichtigen sollten, um zu beurteilen, ob das System gut oder schlecht funktioniert. Sollen wir die im internationalen Vergleich erfreulichen Quoten bei der beruflichen Eingliederung von Jugendlichen mit einem EFZ oder die Quote der Jugendlichen mit einem Sek II-Abschluss hervorheben? Oder sollte man dem Drittel der Jugendlichen mehr Aufmerksamkeit schenken, die an die Grenzen des Systems stossen, weil sie entweder keine Lehrstelle finden und den Übergang nach der obligatorischen Schule auf ein oder mehrere Jahre ausdehnen oder weil sie mit relativ geringen Kompetenzen in die Arbeitswelt eintreten?

In den lateinischen Kantonen, aber auch in Ländern wie Österreich oder den Niederlanden, bieten beispielsweise Vollzeitberufsschulen Alternativen zum dualen Modell mit sehr interessanten Ergebnissen.

Die pädagogischen und sozialen Dimensionen des dualen Modells an sich sollte folglich stärker hinterfragt werden. Während niemand seine Effizienz und seine Eignung für die Ausbildung qualifizierter Fachkräfte in Frage stellt, sollten wir uns der Grenzen einer Verallgemeinerung bewusst sein. Ist diese Art der Ausbildung für alle Berufe und für alle Jugendlichen angemessen? Sollte die Schweiz eine Quote von 80% Jugendlicher in der dualen Berufsbildung anstreben, wie in unterschiedlichen Stellungnahmen immer wieder angedeutet wird? Oder sollte das Verhältnis zu anderen Bildungswegen überdacht werden? In den lateinischen Kantonen, aber auch in Ländern wie Österreich oder den Niederlanden, bieten beispielsweise Vollzeitberufsschulen Alternativen zum dualen Modell mit sehr interessanten Ergebnissen. Hier wären gründliche Evaluationen notwendig, um zu verstehen, ob es nicht sinnvoll wäre, die Beziehungen zwischen den verschiedenen schulischen oder dualen Bildungsangeboten auf der Sekundarstufe II zu überdenken. Eine solche Diskussion anzustossen ruft jedoch häufig scharfe Reaktionen hervor, was eine Initiierung wissenschaftlich objektiver Evaluation und Beurteilung nicht erleichtert. Dabei wäre eines solche Diskussion umso relevanter, als die Berufsbildung auch mit dem Erreichen sozialer Zielsetzungen beauftragt ist. Ein Widerspruch zu den wirtschaftlichen Zielen führt hier zur komplexen Situation, in der die Merkmale, die die duale Ausbildung für Unternehmen und für Jugendliche mit stärkeren Profilen interessant machen, es für die schwächeren Profilen gleichzeitig erschweren, sich überhaupt in das System zu integrieren.

Ein weiterer Blind Spot, der den Bereich der Berufsbildung indirekt berührt, verweist uns auf die Organisation des Sekundarstufe I und die Zugangsbedingungen zu den Ausbildungsgängen der Sekundarstufe II. In einer beträchtlichen Anzahl von Kantonen ist der Zugang zu den Gymnasien durch ganz unterschiedliche Zulassungsverfahren stark beschränkt. Wie sind diese Einschränkungen in der freien Wahl eines Ausbildungsgangs auf der Sekundarstufe II zu deuten? Sind sie überhaupt sozial und pädagogisch vertretbar? Und gleichzeitig: Würde die duale berufliche Grundbildung überleben, wenn diese Einschränkungen abgeschafft würden, die de facto eine gewisse Anzahl von Jugendlichen mit starken Profilen dazu drängen, sich für eine duale Berufsausbildung zu entscheiden, da sie es nicht ins Gymnasium geschafft haben? Auch hier müssten umfangreichere Studien durchgeführt werden, um die Folgen dieser Einschränkungen besser zu verstehen. Hier ist nicht zuletzt ein Vergleich zwischen den Sprachregionen interessant, zumal in der lateinischen Schweiz die Zugangsbedingungen zu den Gymnasien weit weniger selektiv sind und die freie Wahl einer Ausbildung auf der Sek II besser gewährleistet zu sein scheint. Damit können aber, nota bene, nicht alle Probleme der Übergänge, der Gleichheit und der Funktionsweise des Systems als Ganzes gelöst werden.

Schliesslich stellt sich die Frage, ob das duale System tatsächlich so effektiv ist, wie es gerne dargestellt wird. Diese Frage sollte vor allem im Zusammenhang mit dem Mangel an qualifizierten Fachkräften aufgeworfen werden. Es stellt sich die Frage, ob das Gleichgewicht des Schweizer Bildungssystems, das weitgehend zugunsten der Berufsbildung ausfällt, nicht auch für einen gewissen Mangel an hochqualifizierten Profilen verschuldet, was die Berufsbildung selbst damit zu einer «Komplizin» (vgl. Jakob Kost, Universität Toronto) dieses Mangels macht. Reicht der Versuch, die Höhere Berufsbildung und die Fachhochschulen auszubauen, aus, um dieses Problem zu lösen? Oder wird die Lösung unweigerlich in einer Erweiterung des Angebots auf universitärer Ebene liegen, vielleicht auch mit dualen Studiengängen nach dem Modell des deutschen dualen Studiums – ein Modell, das in der Schweiz seltsamerweise auf grossen Widerstand stösst?

Der Workshop hat uns darüber hinaus erlaubt, mögliche Gründe für die relative Zurückhaltung der Diskussionen zu diesen Themen besser zu verstehen. So wurden mögliche Abwehrmechanismen diskutiert, die eine Institution wie die Berufsbildung anwendet, um ihre Selbsterhaltung zu sichern und dadurch Kritik zu begrenzen oder zumindest zu kontrollieren. Um diese Selbstverteidigungsstrategien richtig zu verstehen, muss man es wagen, die Werte zu hinterfragen, die der Institution selbst zugrunde liegen. Gibt es Gruppen, die von der Situation profitieren und kein Interesse an einer allfälligen Kritik von Ungleichheit und Diskriminierung zeigen und «deshalb Kritik und Wandel behindern» (vgl. Regula Leemann, Fachhochschule Nordwestschweiz)? Wer tätigt monetären Investitionen und hat Renditeerwartungen, die mit der Entwicklung des Systems verbunden sind? Antworten auf diese Fragen würden uns ein besseres Verständnis dafür vermitteln, wie schwierig es sein kann, eine Institution zu kritisieren, und warum Reformvorschläge, Innovationen und sogar kleine Anpassungen kategorische Ablehnung hervorrufen können.

Zu diesen Selbstverteidigungsstrategien kommt im Fall der Schweizer Berufsbildung eine identitätsstiftende Dimension hinzu, die sich in den letzten Jahrzehnten verstärkt hat und die duale Berufsbildung zu einem Schlüsselelement der «Swissness» gemacht hat.

Zu diesen Selbstverteidigungsstrategien kommt im Fall der Schweizer Berufsbildung eine identitätsstiftende Dimension hinzu, die sich in den letzten Jahrzehnten verstärkt hat und die duale Berufsbildung zu einem Schlüsselelement der «Swissness» gemacht hat. Dadurch wird Kritik zusätzlich erschwert, denn als Teil einer nationalen Identität neigt die duale Berufsbildung dazu, sich der Kritik zu entziehen, selbst wenn diese konstruktiv gemeint ist. Kritik am dualen System wird schnell als Angriff auf die Schweiz selbst verstanden, oder besser gesagt auf das Selbstbild der Schweiz als «imaginierte Gemeinschaft von Berufsleuten» (Katrin Kraus, Universität Zürich), deren Mitglieder durch eine Lehre sozialisiert wurden. Im Zusammenhang mit dieser identitätsstiftenden Dimension hat sich wohl auch das Tabu seiner Kritik als Teil einer Selbstverteidigungsstrategie entwickelt. Dieses Tabu nötigt uns nicht zuletzt selbst in diesem kurzen Bericht sowie im Kontext des Workshops zur Klarstellung, dass wir an einer wissenschaftlichen, einer verbesserungsorientierten, nicht an einer polemischen Kritik interessiert sind.

Der Workshop hat es uns aber gleichwohl ermöglicht, die Perspektive auf das Phänomen der Kritik noch etwas zu erweitern. Wir haben auch den tatsächlichen Spielraum für eine konstruktive und auf Verbesserungen ausgerichtete Kritik am System hinterfragt. Zwar scheinen einzelne Veränderungen durchaus politisch möglich zu sein, aber tiefgreifendere Reformen sind trotz der Dringlichkeit einiger Herausforderungen eher unwahrscheinlich.

Der Regisseur und Intendant Milo Rau hat kürzlich eine interessante «Kritik» an der Ausübung der Kritik selbst formuliert, in der die Überlegungen der 1990er-Jahre zum Ende der Utopien nachhallen.[2] Rau sagt, dass die seither eingetretenen Krisen zwar eine Reihe von Kritiken und Protesten erzeugt haben, diese aber im Allgemeinen keine Veränderungen der Praxis hervorzubringen scheinen. Die Kritik «scheint, ganz im Gegenteil, an die Stelle einer möglichen Veränderung selbst getreten zu sein. Mit anderen Worten: Das als alternativlos erlebte Reale wird nicht als veränderlich, sondern eben nur als kritisierbar dargestellt.» [3] In diesem Sinne bleibt die Kritik systemimmanent. Sie verhindert und «überschreibt» die Utopie.

Trotz dieser «dystopischen» Vision können wir hoffen, dass sich die Schweizer Berufsbildung weiterentwickeln und verbessern kann. Dies nicht zuletzt dank der konstruktiven Kritik, die sowohl von Seiten der Wissenschaft als auch von Akteurinnen aus der Praxis kommen kann. Wenn wir auf die fast 150-jährige Geschichte der Schweizer Berufsbildung zurückblicken, können wir feststellen, dass sich dennoch eine Art «Tradition der kritischen Wahrnehmungen» herausgebildet hat (vgl. Philipp Gonon, Universität Zürich). Die Berufsbildung wurde bis vor wenigen Jahrzehnten regelmässig kritisiert und konnte sich dank dieser Kritik weiterentwickeln und verbessern. Es muss das Notwendige getan werden, um die Beziehung zwischen Kritik und Verbesserung aufrecht zu erhalten. Es bedarf weiterhin einer konstruktiven Kritik, und gleichzeitig müssen «Utopien für die Schweizer Berufsbildung von morgen» erdacht werden können. Das nächste Treffen des Workshops im Februar 2024 wird übrigens unter diesem Motto stattfinden.

[1] Vgl. auch das kürzlich erschienene Interview mit Dieter Euler für Transfer: «Erfolge und Probleme der Berufsbildung in der Schweiz»
[2] Vgl. Habermas, J. (1992 (1984)). Die Krise des Wohlfahrtsstaates und die Erschöpfung utopischer Energien. In Politische Schriften (pp. 104-126). Cerf, und Offe, C. (2019). Nach dem «Ende der Utopie»: Die Zivilgesellschaft als Fortschrittsidee? (2004). In C. Offe, Institutionen, Normen, Bürgertugenden (S. 367-375). Springer Fachmedien Wiesbaden. https://doi.org/10.1007/978-3-658-22261-1_17
[3] https://www.republik.ch/2022/11/04/zur-totalen-gegenwart-eine-poetikvorlesung-von-milo-rau

VET Winter Workshop: «Wer wagt es, das beste System der Welt zu kritisieren?»

Die Redebeiträge des Workshops

  • A-t-on encore besoin de la pensée critique ? Effets du temps de l’accélération sur l’espace de la réflexion, Fabio Merlini, Eidgenössische Hochschule für Berufsbildung
  • Die Schweiz als «imaginierte Gemeinschaft» von Berufsleuten, Katrin Kraus, Universität Zürich.
  • Evidence-based policy oder policy-based evidence? Zum spannungsreichen Verhältnis zwischen Wissenschaft und Politik am Beispiel der Thomas Meyer, Universität Bern.
  • Macht, Glaube, Geld und Abhängigkeiten: Weshalb Kritik am besten System der Welt blasphemisch ist. Regula Julia Leemann, Pädagogische Hochschule Nordwestschweiz
  • Die Mängel des «Fachkräftemangel»-Narrativs: Die Berufsbildung als Problem, Lösung und Komplizin. Jakob Kost, Toronto University.
  • Kritik, Imaginationen, Evidenzen und Mängel – Wahrnehmungen des Ausbaus dualer Berufsbildung in der Schweiz. Philipp Gonon, Universität Zürich.
Zitiervorschlag

Bonoli, L., Ruoss, T., & Vorpe, J. (2023). Warum sollte man das «beste System der Welt» kritisieren?. Transfer. Berufsbildung in Forschung und Praxis 8(7).

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