Berufsbildung in Forschung und Praxis
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Neue ZHAW-Studie

Wie es um die Schreibkompetenzen Berufslernender steht

Lese- und Schreibkompetenzen ermöglichen die Teilhabe am kulturellen, wirtschaftlichen und politischen Leben. Sie öffnen die Türen zu Bildung und Weiterbildung und sind – gerade auch mit Blick auf die Digitalisierung – grundlegende Voraussetzung für den beruflichen Erfolg. Eine trinationale Studie zeigt, wie es um die Schreibkompetenzen Berufslernender steht. Die Ergebnisse bestätigen nicht nur den Handlungsbedarf in Bezug auf die Förderung literaler Kompetenzen in der beruflichen Bildung, sondern bieten erstmals eine wissenschaftlich gesicherte Grundlage für eine bedarfsgerechte Schreibförderung.


Im Rahmen der vorliegenden Studie[1] wurden in der Bodenseeregion der Schweiz, Österreichs und Deutschlands 1472 Texte von 688 Berufslernenden im ersten Lehrjahr aus 13 verschiedenen Lehrberufen gesammelt. Die Lernenden wurden aufgefordert, zwei Texte zu schreiben: einen, in dem sie den Lehrmeister oder die Lehrmeisterin davon überzeugen mussten, sie für eine eintägige Betriebsbesichtigung mit ihrer Berufsschulklasse freizustellen; einen anderen, in dem sie spannende Erfahrungen und Herausforderungen ihrer Berufslehre für eine Internetseite ihres Berufsfachverbandes beschreiben sollten. Alle Texte wurden nach fünf Beurteilungskriterien bewertet: sprachliche Richtigkeit, Stil, Struktur, Inhalt und kommunikative Wirkung.[2] Die Ergebnisse geben erstmals eine wissenschaftlich gesicherte Grundlage, um

  • genauere Aussagen über die sprachlichen und textbezogenen Kompetenzen von Berufslernenden zu machen,
  • den Förderbedarf konkret zu beschreiben und
  • Unterrichtskonzepte für eine gezielten Förderung der Schreibkompetenzen in der beruflichen Bildung zu entwickeln.

Die wichtigsten Ergebnisse

Im Durchschnitt erzielten die Lernenden in der Berufsbildung in allen Bewertungskriterien nur die Hälfte der möglichen Punkte. Mit anderen Worten: Der Förderbedarf ist beträchtlich.

Es konnten drei Kompetenzprofile von Lernenden ermittelt werden, die sich in Bezug auf alle Beurteilungskriterien deutlich voneinander unterscheiden: niedrige, mittlere und höhere Schreibkompetenz. Die grosse Mehrheit der Berufslernenden, so das Ergebnis, weist ein niedriges (336 von 688 Lernenden) bis mittleres (296 von 688) Schreibkompetenzprofil auf. Nur eine Minderheit (56 von 688) erreicht ein höheres Profil. Im Durchschnitt erzielten die Lernenden in der Berufsbildung in allen Bewertungskriterien nur die Hälfte der möglichen Punkte. Mit anderen Worten: Der Förderbedarf ist beträchtlich.

Im niedrigen Schreibkompetenzprofil finden sich überhäufig Lernende, die erst in der späteren Kindheit oder Jugend eingewandert sind und die deutsche Sprache als relativ späte Zweitsprache zu lernen begonnen haben. Aber nicht nur sie verfügen über eingeschränkte Schreibkompetenzen, sondern oft auch Lernende mit Deutsch als Erstsprache. Nicht selten stammen Lernende mit niedrigem Schreibkompetenzprofil aus bildungsferneren Familien und schätzen ihre Schreibkompetenzen selbst als gering ein.

Die Herausforderungen

In Fokusgruppendiskussionen wurden die Ergebnisse der Studie mit Lehrpersonen des allgemeinbildenden Unterrichts (ABU) in der Schweiz diskutiert, die mit ihren Klassen an der Untersuchung beteiligt gewesen waren. Sie bestätigten, dass die Forschungsresultate mit ihren Erfahrungen übereinstimmen, sprachen über besondere Herausforderungen im Unterricht und erörterten Möglichkeiten der Schreibförderung.

Die Lehrpersonen sehen sich in der schwierigen Lage, die sprachlich schwachen und die relativ starken, die ein- und mehrsprachigen Lernenden in ihren Klassen gleichermassen zu fördern, und dies in einem relativ engen Zeitrahmen.

Die Heterogenität der Lernenden mit ihren unterschiedlichen Sprachbiografien und sprachlichen Fähigkeiten ist eine der grössten Herausforderungen für die Lehrpersonen: Sie sehen sich in der schwierigen Lage, die sprachlich schwachen und die relativ starken, die ein- und mehrsprachigen Lernenden in ihren Klassen gleichermassen zu fördern, und dies in einem relativ engen Zeitrahmen.

Mit Blick auf die Lernenden mit niedrigem Schreibkompetenzprofil, deren Texte zum Teil grosse Mängel in Orthografie und Grammatik aufweisen, stellt sich in der Praxis immer wieder die Frage, wie stark sprachliche Richtigkeit zu gewichten sei. Auf der einen Seite kann die hohe Fehlerzahl in Orthografie und Grammatik entmutigend und wenig förderlich auf die Schreibmotivation wirken, auf der anderen Seite ist sprachliche Richtigkeit in Berufen mit höheren Anforderungen an das Schreiben von Texten, z.B. im Verkehr mit Kundschaft, stärker zu gewichten.

Für die Lehrpersonen hat es sich als wichtig erwiesen, den Lernenden – unabhängig von der Anzahl orthografischer und grammatischer Fehler – Feedback auf die Wirkung von Texten zu geben, also dazu, ob und warum z.B. ein Text überzeugend auf den Empfänger bzw. die Empfängerin wirkt oder eben nicht. Die Lernenden sollten mehr angeleitet werden, die Adressatinnen und Adressaten ihrer Texte ins Auge zu fassen. Im späteren Leben schreiben sie schliesslich nicht für die Lehrpersonen, sondern für die Leserinnen und Leser ihrer Texte. Um die Schreibmotivation zu fördern, ist es auch wichtig, verschiedene Zugänge zur Schriftlichkeit anzubieten und das Schreiben von längeren Texten z.B. durch mündliche Aufgaben oder durch das vorgängige Schreiben von kürzeren Teiltexten zu entlasten.

Insbesondere für die Gruppe der Lernenden mit niedrigem Schreibkompetenzprofil benötigen Lehrpersonen einen spezifischen Zugang: Diesen Lernenden können die sprachlichen Mittel und Strukturen, die sie brauchen, um Texte zu schreiben, auch als vorgefertigte Bausteine (sogenannte Chunks) angeboten werden. Davon profitieren nicht nur die Jugendlichen, die in der späteren Kindheit oder Jugend eingewandert sind und relativ spät Deutsch als Zweitsprache zu lernen begonnen haben, sondern auch die sprachlich schwächeren, die im Inland geboren und eingeschult wurden.[3] Dafür benötigen die Lehrpersonen eine solide Aus- bzw. Weiterbildung an der Schnittstelle von Deutsch als Erst- und Zweitsprache.

Schreiben in Lernszenarien

Als sinnvoller didaktischer Ansatz für die Schreibförderung im allgemeinbildenden Unterricht an Berufsfachschulen hat sich die Arbeit mit realitätsnahen Szenarien erwiesen. Diese geben Anlass, Lesen und Schreiben für die Lösung von alltäglichen Problemen einzusetzen. In einem Szenario kann es zum Beispiel darum gehen, beim Lehrbetrieb um Freistellung für die Teilnahme an einer Betriebsbesichtigung zu bitten oder Einspruch gegen eine überhöhte Mobilfunk-Rechnung zu erheben. So können, wie im Rahmenlehrplan vorgesehen, allgemeine gesellschaftliche Themen bearbeitet und zugleich sinnvoll mit Lese- und Schreibförderung verbunden werden.

In Szenarien schreiben die Lernenden nicht als «Pflichtübung» für die Lehrperson, sondern sie verfassen Texte für reale (oder zumindest realitätsnahe) Adressaten, die durch das Szenario gegeben sind.

In Szenarien schreiben die Lernenden nicht als «Pflichtübung» für die Lehrperson, sondern sie verfassen Texte für reale (oder zumindest realitätsnahe) Adressaten, die durch das Szenario gegeben sind. Mit Blick auf den Empfänger bzw. die Empfängerin können sie z.B. einen klaren Textaufbau, einen angemessenen Stil oder entsprechende Höflichkeitsformen trainieren. Dieser Ansatz wurde in einer früheren, vom Staatssekretariat für Bildung, Forschung und Innovation (SBFI) finanzierten Studie zur Förderung der allgemeinen Schreibkompetenz an Berufsfachschulen. Prozessorientierte Schreibdidaktik zwischen Deutsch als Mutter- (DaM) und Zweitsprache (DaZ) erfolgreich erprobt. Sie zeigt, dass Schreibszenarien sehr lernförderlich für das Schreiben sind (Hoefele, J. et al. 2016).[4]

Alltagsnahe Szenarien bieten sich auch dafür an, das Lesen und Schreiben fruchtbar aufeinander zu beziehen. Anhand von Lesetexten lassen sich nicht nur Inhalte erarbeiten, die für die Argumentation des eigenen Textes wichtig sind, sondern auch (Fach-)Wortschatz, Textmuster und -strukturen, die beim Schreiben des eigenen Textes wiederverwendet werden können. Dieser Ansatz wurde 2019 in einer weiteren, von der ZHAW finanziell geförderten Studie Szenariobasierte Lese- und Schreibförderung an Berufsfachschulen erfolgreich eingesetzt. Es hat sich gezeigt, dass davon nicht zuletzt auch die sprachlich schwächeren, ob ein- oder mehrsprachigen Lernenden profitieren.[5]

Integrierte Lese-Schreib-Förderung

An der Studie Szenariobasierte Lese- und Schreibförderung an Berufsfachschulen nahmen zehn Berufsfachschulen mit 285 Lernenden im ersten Lehrjahr teil (9 Experimentalklassen mit 134 Lernenden; 10 Kontrollklassen mit 151 Lernenden; insgesamt 8 EFZ- und 11 EBA-Klassen).

Die Experimentalklassen bearbeiteten im Laufe von 12 bis 14 Wochen innerhalb des regulären ABU-Unterrichts drei Lese-Schreib-Szenarien:

  • Szenario 1: Einen Konflikt mit dem Lehrbetrieb lösen (ca. 3-4 Lektionen)
  • Szenario 2: Auf eine Strategieänderung in der Mensa reagieren (ca. 5 Lektionen)
  • Szenario 3: Eine Mobbing-Situation im Lehrbetrieb aufgrund kultureller Herkunft melden (ca. 4 Lektionen)

In Szenario 1 wurde den Lernenden folgende Situation vorgestellt: Igor, ein Klassenkamerad der Lernenden, ist erfolgreicher Mittelstürmer in einer Fussballmannschaft. Nun kommt Igor regelmässig zu spät ins Training oder verpasst es ganz, weil er in seinem Lehrbetrieb Überstunden leisten muss. Der Trainer stellt ihm ein Ultimatum: Entweder er kommt pünktlich und regelmässig zum Training oder er fliegt aus der Mannschaft. Igor wendet sich daraufhin an seinen Lehrmeister und erklärt ihm seine Situation. Dieser mahnt ihn jedoch schriftlich, dass er gemäss OR 321c verpflichtet sei, Überstunden zu leisten, vor allem weil das Geschäft saisonal bedingt einen hohen Arbeitsaufwand leisten müsse.

Nun sind die Lernenden aufgefordert, Igor behilflich zu sein, eine Lösung für den Konflikt zu finden und ein Antwortschreiben an den Lehrmeister zu entwerfen. Nach einer Diskussion des Problems in der Klasse wird klar, dass sich die Lernenden über OR 321c kundig machen müssen. Also bearbeiten sie den entsprechenden Paragraphen aus dem Obligationenrecht. Im Internet finden sie auch einen Ratgebertext, der ihnen in einfacherer Sprache Auskunft über ihre Rechte und Pflichten bezüglich Überstunden im Betrieb gibt. Anhand der Lesetexte erarbeiten die Jugendlichen inhaltliche Argumente, Wortschatz sowie Textstrukturen. So werden sie durch inhaltliche und sprachbezogene Vorarbeiten entlastet, bevor sie das Antwortschreiben formulieren, in dem sie dem Lehrmeister einen Kompromissvorschlag unterbreiten.

Ähnlich verläuft die Bearbeitung der anderen Lese-Schreibszenarien. Auch hier sind Lesen und Schreiben von Texten so aufeinander bezogen, dass das Lesen das Schreiben unterstützt, wie auch das Schreiben Anlass zum Recherchieren und genaueren Lesen von Texten gibt.

Die Studie konnte zeigen, dass Lernende mit dieser Methode tatsächlich schon nach relativ kurzer Zeit bessere Texte geschrieben haben.[6]Zudem hat sich herausgestellt, dass gerade die schwächeren Lernenden der EBA-Klassen von der szenariobasierten Lese-Schreibförderung besonders stark profitierten, und zwar weitgehend unabhängig von ihrem Sprachhintergrund (siehe Abbildung).

Abbildung: Kompetenzentwicklung nach angestrebtem Berufsabschluss EBA / EFZ in der Experimental- und Kontrollgruppe. Signifikante Verbesserungen sind in der Experimentalgruppe EBA zu beobachten (ganz links), während die Kontrollgruppe ohne szenariobasierte Lese-Schreib-Förderung im gleichen Zeitraum keine messbaren Fortschritte machte (3. Spalte). Die Verbesserung in der Experimentalgruppe fällt in drei- und vierjährigen Berufslehren (EFZ) geringer aus als in der EBA (2. Spalte), die Kontrollgruppe macht wiederum keine messbaren Fortschritte (4. Spalte).

Häufig gelinge es Lernenden nicht, in isolierten Übungen zuvor Gelerntes dann auf das Schreiben längerer Texte in komplexeren Lese-Schreib-Aufgaben anzuwenden. Dafür benötigten sie mehr Zeit.

Auch wenn sich gezeigt hat, dass mit einem guten Konzept der Lese-Schreib-Förderung relativ rasch Fortschritte gerade bei sprachlich schwächeren Lernenden erzielt werden können, darf der Faktor Zeit nicht unterschätzt werden. Dies bestätigten die Lehrpersonen einhellig. In der relativ kurzen verfügbaren Unterrichtszeit könnten sie angesichts der doch beträchtlichen Herausforderungen zu wenig individuell auf die Bedürfnisse der Lernenden eingehen; häufig gelinge es Lernenden vor allem nicht, in isolierten Übungen zuvor Gelerntes dann auf das Schreiben längerer Texte in komplexeren Lese-Schreib-Aufgaben anzuwenden. Dafür benötigten sie mehr Zeit, um die notwendigen Routinen aufzubauen und zu festigen.

Wünschenswert wären aus Sicht der Lehrpersonen auch mehr thematisch ansprechende und (sprach-)didaktisch aufbereitete Unterrichtsmaterialien für den allgemeinbildenden Unterricht, die auf die Lebenswelt und die spezifischen Bedürfnisse von Jugendlichen in der beruflichen Bildung zugeschnitten sind.

[1] Die von der Internationalen Bodensee-Hochschule (IBH) finanziell geförderte Studie wurde von der Zürcher Hochschule für Angewandte Wissenschaften (ZHAW) in Zusammenarbeit mit der Fachhochschule Vorarlberg und der Pädagogischen Hochschule Weingarten durchgeführt.
[2] Hoefele, J., Huber, B., Konstantinidou, L., Liste Lamas, E., König, St., Lukas, S., Rebitzer, F., Roux, P. (2021) Abschlussbericht Förderung der allgemeinen Schreibkompetenz nach Lernenden-Profilen: eine korpusbasierte Studie für eine bedürfnisorientierte Schreibdidaktik in der beruflichen Bildung
[3] Hoefele, J., Konstantinidou, L., Kruse, O., Dieterich, S. (2016). Förderung der allgemeinen Schreibkompetenz an Berufsfachschulen. Valorisierungsbericht.Förderung der allgemeinen Schreibkompetenz an Berufsfachschulen
[4] Hoefele, J. et al. 2016
[5] Konstantinidou, L., Madlener-Charpentier, K., Opacic, A., Gautschi, C., Hoefele, J. (in Begutachtung). Integrated Reading and Writing Support in Vocational Education and Training. Reading and Writing
[6] Konstantinidou, L. et al. in Begutachtung
Zitiervorschlag

Hoefele, J., & Madlener-Charpentier, K. (2021). Wie es um die Schreibkompetenzen Berufslernender steht. Transfer. Berufsbildung in Forschung und Praxis 6(3).

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