Berufsbildung in Forschung und Praxis
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hep-Buch und Tagung der SGAB

Wir brauchen ein berufliches Grundbildungssystem für Erwachsene

Berufsbildung für Erwachsene ist in der Schweiz endlich zum wichtigen Thema geworden. Es ist nicht länger tolerierbar, dass über 500’000 Menschen über 25 ohne Abschluss auf Sekundarstufe II mehr schlecht als recht im Arbeitsmarkt stehen und gleichzeitig ein Mangel an Fachkräften besteht. Das neu erschienene Buch «Berufsabschluss für Erwachsene in der Schweiz – Bestandesaufnahme und Blick nach vorn» zeigt auf, wie diese Situation verändert werden kann. Es macht Vorschläge zur Einrichtung eines beruflichen Grundbildungssystems für Erwachsene. Die SGAB führt zum gleichen Thema im November eine Tagung durch.


Jahrelang hat sich die Bildungspolitik nur wenig dafür interessiert, doch seit Kurzem ist das Thema in der Agenda sichtbar nach oben gerückt: Eine halbe Million Menschen hat nur die Volksschule besucht, aber keine nachobligatorische Bildung. Der Anlass für das Interesse liegt in zwei Entwicklungen: Gewisse Branchen klagen über Fachkräftemangel, und 2014 wurde die Masseneinwanderungsinitiative angenommen. Nun sollen im Inland mehr Erwachsene für eine qualifizierte Berufstätigkeit befähigt werden. Die getroffenen und künftigen Massnahmen zielen auf arbeitstätige Personen, denen eine berufliche Ausbildung fehlt. Die Verbesserung des Zugangs von Erwachsenen zur Berufsbildung ist dabei zentral.

Die Thematik ist auch sozialpolitisch relevant, und aus dieser Perspektive gilt die Berufsbildung für Erwachsene schon länger als wichtig: Schätzungen gehen davon aus, dass von den rund 550’000 Erwachsenen zwischen 25 und 64 ohne Abschluss auf der Sekundarstufe II über 100’000 noch dreissig und mehr Berufsjahre vor sich haben. Diese Zahlen sind beunruhigend, denn die Statistik zeigt deutlich, dass Personen ohne nachobligatorische Ausbildung im Vergleich zu höher qualifizierten Personen signifikant häufiger von Arbeitslosigkeit und Armut betroffen sind.

Die grösste Hürde liegt bei der Finanzierung. Das Nachholen eines Abschlusses via berufliche Grundbildung führt zu ungedeckten Kosten von 50’000 bis 150’000 Franken pro Person, mehrheitlich bedingt durch den Einkommensverlust.

Erwachsene können in der Schweiz bereits seit 1933 ihre Ausbildung vervollständigen und anerkennen lassen. Aber trotz funktionierenden Angeboten, Berichten, Vorstössen im Bundesparlament sowie Inputs von Seiten der Gewerkschaften wächst die Zahl der Erwachsenen, die erst nach 25 einen Berufsabschluss erwerben, seit Jahren nur sehr langsam. Warum ist das so? Warum kommen nur wenige von den vielen, die einen Berufsabschluss anstreben und auch dazu fähig wären, ins Ziel? Erste Antworten aus Untersuchungen und Berichten von Betroffenen sind im Buch «Berufsabschluss für Erwachsene in der Schweiz» ausführlich beschrieben.

  1. Die grösste Hürde liegt bei der Finanzierung. Das Nachholen eines Abschlusses via berufliche Grundbildung führt zu ungedeckten Kosten von 50’000 bis 150’000 Franken pro Person, mehrheitlich bedingt durch den Einkommensverlust. Sollen jährlich 1000 zusätzliche Personen einen Abschluss erwerben, sind das 50 bis 150 Millionen Franken pro Jahr. Diese Mittel sind in der heutigen politischen Situation kaum zu beschaffen. Wichtig ist deshalb, dass in Zukunft die grosse Mehrheit der Interessierten die nötige ergänzende Bildung berufsbegleitend besuchen kann, was den Erwerbsausfall massiv verringert. Dazu sind spezielle Angebote für erwachsene Lernende erforderlich, deren Kosten in ähnlichem Umfang von der öffentlichen Hand übernommen werden wie bei den Mittelschulen für Erwachsene. Wichtig sind zudem neue Unterrichtsformen, die zeitliche und örtliche Flexibilität ermöglichen, die bei Erwachsenen entscheidend sind.
  2. Dass ein massiver Informationsmangel über Berufsabschlüsse für Erwachse besteht, ist heute weitgehend anerkannt. Wichtig ist, dass Beratungspersonen aus verschiedenen Ämtern über das Vorgehen, die Chancen und Hindernisse gründlich Bescheid wissen. Arbeitgebenden soll bewusst werden, dass auch Erwachsene über 25 einen Abschluss erwerben können. Schliesslich muss sich eine umfassende Informationskampagne an das soziale und berufliche Umfeld der Interessierten richten. Personen, die diesen Weg gehen, verdienen Wertschätzung; diese ist entscheidend, damit sie es auch im Alter von 30, 40 oder 50 Jahren wagen, eine mehrjährige Ausbildung in Angriff zu nehmen und mehrere Jahre durchzuhalten. Die im Buch beschriebenen Erfolgsgeschichten zeigen, wie sehr sich der Aufwand auf individueller, beruflicher und gesellschaftlicher Ebene lohnt.
  3. Schliesslich braucht es in allen Formen der beruflichen Grundbildung eine umfassende Begleitung der lernenden Person, vorzugsweise über die Gesamtzeit von der gleichen Beratungsperson. Von der Fachwelt ist die Notwendigkeit einer konstanten Begleitung unbestritten.

Zusammenfassend kann festgestellt werden: Die Berufslehre als zentrales System zum Erwerb einer beruflichen Grundbildung richtet sich an Jugendliche. Für Erwachsene ist es wenig geeignet und verursacht zu hohe Kosten. Es braucht für sie ein eigenes, paralleles System, wie es bei den Mittelschulen existiert. Nur wenn der politische Wille vorhanden ist, Erwachsenen zu ermöglichen, in einem erwachsenengerechten System vorhandene Qualifikationen anerkennen zu lassen und Lücken zu schliessen, werden wir die gewünschte Zunahme von Abschlüssen erreichen.

Drei Elemente des «Modells 2025»

In ihrem Buch zeigen Markus Maurer, Emil Wettstein und Helena Neuhaus auf, wie Erwachsene in der Schweiz einen Berufsabschluss erlangen können. Im «Modell 2025» beschreiben sie einen Idealzustand und leiten von diesem Empfehlungen ab. Wir greifen drei Elemente des «Modells 2025» heraus.

  1. «Es gibt Berufsfachschulen für Erwachsene. Sie sind genau so selbstverständlich wie Maturitätsschulen für Erwachsene. Personen, die als Erwachsene eine berufliche Ausbildung erwerben, finden in ihrer Umgebung ebenso viel Anerkennung wie Erwachsene, die eine Matura nachholen.» Dieser Gedanke klingt im Moment –  wie früher bei den Mittelschulen – visionär. Doch bereits heute existieren mehrere Programme, die sich, zumindest in Teilbereichen, in diese Richtung bewegen.
  2. «Die Berufsbildung für Erwachsene orientiert sich an den Qualifikationsprofilen der einzelnen Berufe; sie findet in Modulen statt, die einzeln abgeschlossen werden. Die Gesamtheit allerbestandenen Module führt zum EFZ.» Die Anerkennung von bestehenden Kompetenzen – wie wir sie schon jetzt vom Validierungsverfahren kennen – soll sich an den Qualifikationsprofilen der einzelnen Berufe orientieren. Die Angebote der ergänzenden Bildung bzw. der einzelnen Module sind so strukturiert, dass in einer Einheit jeweils eine Kompetenz oder eine Gruppe von Kompetenzen vermittelt wird. Jede Einheit wird mit einem Leistungsnachweis abgeschlossen. Dass dies möglich ist, zeigt der Kanton Genf, der bereits im Jahr 2007 in allen Berufen, die zum Validierungsverfahren zugelassen sind, die Modularisierung eingeführt hat. Dadurch konnte Genf die Anzahl der EFZ-Abschlüsse von Erwachsenen von über 25 Jahren beträchtlich erhöhen.
  3. «Aus den bisher bekannten Wegen, die Erwachsene zu einem EFZ führen, ist ein einfaches, flexibles und für alle leicht verständliches System entstanden, das sich für 80 Prozent aller Interessierten eignet.»
    Das heutige System mit (je nach Zählung) vier bis sieben Wegen ist zu kompliziert. Unser Vorschlag: Mindestens 80 Prozent aller Interessierten besuchen den gleichen Weg, umfassend die drei Phasen: Planung, Bildung, Abschluss. Die Bildungsphase ist – je nach Start-Niveau der Person – in zwei bis vier Stufen gegliedert, die je mit einem Zwischenabschluss enden. Diese Stufen-Zertifikate sind von der jeweiligen Branche anerkannt und deshalb arbeitsmarktrelevant. Sie sind zudem Teil der Ausbildung zum EFZ.
    Zwischenabschlüsse alle ein bis zwei Jahre sind wichtig, denn sie reduzieren den Druck auf die Teilnehmenden. Dies zeigen Erfahrungen aus der Hotel- und Gastro-Branche, der Uhrenindustrie, der Reinigungsbranche und bei den Produktionsmechanikern. Viele Lernende fühlen sich über die eigenen Fortschritte ermutigt und getrauen sich, bis zum EFZ vorzudringen.

Inhaltsangabe zum Buch

Das Buch «Berufsabschluss für Erwachsene in der Schweiz – Bestandesaufnahme und Blick nach vorn» von Markus Maurer, Emil Wettstein und Helena Neuhaus ist im Juni 2016 im hep-Verlag erschienen. Es beschreibt in Kapitel 1 die methodischen Grundlagen und den Aufbau des Buches. In Kapitel 2 klärt das Autorenteam die zentralen Begrifflichkeiten und Konzepte und zeigt in Kapitel 3 die historische Entwicklung und aktuelle Bedeutung der Berufsbildung für Erwachsene auf. In den Kapiteln 4 bis 7 werden die rechtlichen Grundlagen, die bestehenden Wege zum Berufsabschluss und deren Herausforderungen sowie bestehende Angebote mit wegweisenden Elementen im Detail vorgestellt. Kapitel 8 zeigt Modelle beruflicher Qualifizierung in europäischen Ländern und Kapitel 9 Merkmale einer wirkungsvollen, erwachsenengerechten Berufsbildung. Unter dem Titel «Modell 2025» (Kapitel 10) skizziert das Autorenteam ein System, das ermöglichen würde, signifikant mehr beruflich gering qualifizierte Erwachsene zu einem Berufsabschluss zu führen. Das Buch schliesst mit einer Reihe von Handlungsempfehlungen (Kapitel 11), die sich an diesem Modell orientieren, die aber auch bei einer bescheideneren Zielsetzung und bei anderen Vorgehensweisen wegleitend sein dürften. (192 Seiten, 42 Franken [als E-Book Fr. 29.90]). Bestellungen: hep-verlag.ch

Tagung «Berufsbildung für Erwachsene»

Die PH Zürich organisiert zusammen mit der SGAB die Tagung «Berufsbildung für Erwachsene. Herausforderungen für die Verbundpartner» statt. Im Zentrum stehen Vorträge (unter anderem Emil Wettstein, Bruno Weber, Markus Maurer) und Workshops (Vertreter des Baumeisterverbandes und SavoirSocial). Die Tagung wird durch ein Gespräch zwischen Josef Widmer (SBFI), Marc Kummer (MBA Zürich) und Christine Davatz-Höchner (Schweizerischer Gewerbeverband) abgeschlossen. Zielpublikum sind Lehrerinnen und Lehrer, Ausbildnerinnen und Ausbildner in Betrieben, Vertreterinnen und Vertreter von Verbänden, Mitarbeitende aus Bildungsverwaltung, Berufsberatung, Sozialbehörden und Arbeitsmarktverwaltung (RAV, LAM) und weitere Interessierte. Die Tagung findet am 10. November statt und beginnt um 13.30 Uhr. Anmeldungen sind erbeten an beatrice.schweighauser@sgab-srfp.ch

Zitiervorschlag

Maurer, M., Wettstein, E., & Neuhaus, H. (2016). Wir brauchen ein berufliches Grundbildungssystem für Erwachsene. Transfer. Berufsbildung in Forschung und Praxis 1(1).

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