Berufsbildung in Forschung und Praxis
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Emil Wettstein zur Geschichte der Berufsbildung

Genese des Schweizer Sonderfalls

So bedeutend die Berufsbildung für die Schweiz ist – eine aktuelle Darstellung ihrer Entstehung fehlt bis heute fast ganz. Nun hat sich der Berufsbildungsfachmann Emil Wettstein in über 600 Dokumente vertieft und mit vielen Fachleuten gesprochen. Seine Geschichte der Schweizer Berufsbildung (hep verlag) ist seit April im Handel. Im Interview erläutert Wettstein, ob man etwas aus dieser Geschichte lernen könnte. Als eine der wichtigsten jüngeren Errungenschaften bezeichnet er die Durchlässigkeit der Bildungsangebote.


Emil Wettstein, Sie haben sich zwei Jahre lang mit der Genese der Schweizer Berufsbildung beschäftigt. Gibt es etwas, das man aus dieser Geschichte lernen kann?
Mir ist aufgefallen, dass es immer wieder sehr lange brauchte, bis sich Neuerungen durchsetzten. Man spricht seit 35 Jahren davon, dass die Berufsbildung die Digitalisierung nutzen solle. Wenn ich gewisse Äusserungen anlässlich Corona höre, sehe ich, dass ähnliche Themen auf ähnlichem Niveau wie damals diskutiert werden. Man kann das auch umgekehrt formulieren. So sehe ich mit Erstaunen, dass schon in der Botschaft zum ersten Berufsbildungsgesetz von 1928 viele Themen und Lösungen angesprochen werden, mit denen wir uns noch heute beschäftigen.

Können Sie dafür Beispiele nennen?
Schon damals sprach man von der Berufsbildung für Erwachsene. Auch die Entwicklung vom Technikum zur Fachhochschule zeichnete sich früh ab. Oder die höhere Berufsbildung. Und wie heute war es das Gewerbe, das wichtige Angebote entwickelte, während sich der Staat auf die Oberaufsicht beschränkte – was vielleicht gar nicht so falsch ist.

«Mir fällt mir auf, dass jede Generation das Rad neu erfindet statt zu fragen, wie man früher Räder baute. Ein Beispiel sind die Informations- und Kommunikationstechnologien.»Emil Wettstein

Gibt es Verfahren im Umgang mit diesen Themen, die sich erst im Verlauf der Jahrzehnte etablierten?
Eher fällt mir auf, dass jede Generation das Rad neu erfindet statt zu fragen, wie man früher Räder baute. Die Herausforderungen der Informations- und Kommunikationstechnologien kennen wir nun schon seit Jahrzehnten. Trotzdem beginnt man immer wieder neu nach Antworten zu suchen. Offenbar muss jede Generation ihre eigenen Fehler machen. Und vielleicht mehr als früher gilt: (hoch)schulisch erworbenes Wissen wird höher gewertet als die in der Praxis erworbene Erfahrung.

Welches ist aus der jüngeren Geschichte die wichtigste Errungenschaft in der Berufsbildung? Die Durchlässigkeit zwischen den Bildungsstufen?
Die Durchlässigkeit ist in der Tat der vielleicht wichtigste Fortschritt in der Berufsbildung. Sie bietet den Jugendlichen die Möglichkeit, Bildungsentscheide zu fällen, ohne sich damit gleich fürs ganze Leben festzulegen. Das eröffnet Spielräume und bietet Sicherheit. Wichtig ist zudem das Postulat der Gleichwertigkeit von allgemeiner und beruflicher Bildung. Nebenbei: Dass sie 2005 sogar in der Bundesverfassung verankert wurde, zeigt, dass sie noch nicht verwirklicht worden ist.

Ab den 90er-Jahren begann sich auch die Wissenschaft für die Berufsbildung zu interessieren. Gibt es Arbeiten, die Ihnen besonders aufgefallen sind?
Ein erstes Programm zur Erforschung der Berufsbildung wurde bereits 1976 im Rahmen des Nationalen Forschungsprogramms 10 lanciert (Bildung und das Wirken in Gesellschaft / Education et vie active, EVA). Seine Ergebnisse bildeten u.a. den Anlass zur Gründung der Schweizerischen Gesellschaft für angewandte Berufsbildungsforschung im Jahr 1987. Die SGAB wollte das Forschungspotenzial von EVA nutzbar machen. Seither besonders aufgefallen sind mir gewisse Längsschnittstudien, jene von François Stoll und Kurt Häfeli etwa oder die Tree-Studie unter der Leitung von Thomas Meyer.

Und die Untersuchungen zu Kosten und Nutzen der Berufsbildung?
Diese Untersuchungen sind sehr wichtig für die Akzeptanz der Berufsbildung. Obwohl die Erhebung der Aufwendungen und die Abschätzung der Erträge durch die Lehrbetriebe selber erfolgt, die ja nicht als neutral gelten können. Neben den aktuellen Studien geht leicht vergessen, dass bereits viel früher über Berufsbildung nachgedacht und geforscht wurde. Hervorzuheben ist der Berner Amtsleiter Erwin Jeangros, der seit den 40er-Jahren Untersuchungen durchgeführt und viel publiziert hat. Seine «Maximen» waren über Jahrzehnte hinweg eine weit verbreitete Anleitung für Lehrmeister. Auch Hans Chresta, der erste Amtschef im Kanton Zürich, äusserte sich immer wieder zu berufspädagogischen Fragen, so zur Förderung besonders schwacher und besonders starker Lehrlinge. Das war in den 70er-Jahren.

«Ich hoffe, dass die heutige Beschränkung der Wissenschaft auf Datenerhebung bald wieder einem offeneren Wissenschaftsbegriff Platz lässt. Das würde sich vielleicht positiv auf ihre Relevanz für die Praxis auswirken.» Emil Wettstein

Erhoben diese Leute Daten?
Ja klar. Hans Chresta zu sozialpsychologischen Fragen, Jeangros zur Herkunft und Situation von Lernenden, August Carrard und Jules Suter in den 20er-Jahren zum Erwerb von Qualifikationen und zur Berufswahl. Aber es gibt auch andere Ansätze, um zu Erkenntnissen zu gelangen. Sich wissenschaftlich mit einem Gegenstand auseinandersetzen bedeutet, methodisch über ihn nachzudenken, Nietzsche sprach vom «Wiederfinden dessen, was der Mensch in die Dinge gesteckt hat». Ich hoffe, dass die heutige Beschränkung der Wissenschaft auf Datenerhebung bald wieder einem offeneren Wissenschaftsbegriff Platz lässt. Das würde sich vielleicht positiv auf ihre Relevanz für die Praxis auswirken.

Die Berufsbildung stand Ende der 90er-Jahre dank der «Lehrstellen-Initiative» im Brennpunkt der politischen Debatte. Haben Sie das Anliegen unterstützt?
Die Initiative enthielt wichtige Postulate, von denen manche eingelöst sind. Das Recht auf eine ausreichende berufliche Ausbildung ist heute allgemein anerkannt und damit auch, dass Bund und Kantone für ein genügendes Angebot im Bereich der beruflichen Ausbildung sorgen müssen. Ebenso gibt es eine Vielzahl von Ausbildungsfonds, wie sie die Initiative verlangt hatte. Aber so sinnvoll gewisse Forderungen waren, so war auch klar, dass andere Vorschläge der Initiative, lanciert von den Jugendorganisationen der Gewerkschaften, angesichts der politischen Verhältnisse nicht durchsetzbar waren.

Die Initiative steht exemplarisch für das Spannungsverhältnis zwischen den Partnern in der Berufsbildung, den staatlichen Institutionen und den privaten Trägern. Sie zieht sich wie ein roter Faden durch die Geschichte der Berufsbildung.
Dieses Spannungsverhältnis bildet in der Tat eine der wichtigsten Konstanten der Entwicklung seit 1884. Für die Auseinandersetzung hat jede Generation neue Lösungen gesucht und glücklicherweise auch gefunden. So richtete der Bund Anfang der 70er-Jahre die Eidgenössische Berufsbildungskommission ein, die strategische Lenkungsaufgaben zur Berufsbildung zu erfüllen hatte. Jetzt schickt man sich an, die Kommission durch neue Strukturen zu ersetzen. Die Beteiligten haben sich immer wieder zusammengerauft, auch wenn nicht zu verkennen ist, dass die Wirtschaft letztlich «das Sagen hat».

Rudolf Strahm hat einmal gefragt, warum die Schweiz so reich sei und geantwortet: Wegen der Berufsbildung. Teilen Sie diese Einschätzung?
Dass Ruedi Strahm (oder der Verlag des Buches) die Berufsbildung so prominent zur Quelle des Reichtums in der Schweiz stilisierte, hat dem Verkauf des Buches sicher gutgetan. Ich wäre da weniger pointiert. Die Berufsbildung ist ohne Zweifel von höchster Wichtigkeit für die Schweizer Wirtschaft und andere Bereiche der Arbeitswelt bis hin zu Pflege und zu künstlerischen Berufen. Aber man muss auch sehen, dass sie ihrerseits die Frucht der Fähigkeit von Arbeitswelt und Staat ist, auf vernünftige Art zusammenzuarbeiten – das ist die Grundlage für den Erfolg der Berufsbildung und damit für den Reichtum der Schweiz. Eine zweite Grundlage unseres (nicht allzu gleichmässig verteilten) Wohlstands ist, dass man in der Schweiz die praktische Arbeit als etwas Ehrenhaftes betrachtet. Das ist in so manchen Ländern anders, wo nur das theoretische Denken als eines Menschen würdig betrachtet wird.

Ist das ein Verdienst der Zünfte?
Das mag sein, aber man sollte die Bedeutung der Zünfte für die Berufsbildung nicht überschätzen. Zünfte gab es nur in gewissen Städten, und selbst während ihrer Hochblüte waren 90 Prozent der Menschen in der Landwirtschaft tätig und nicht im Gewerbe, der Domäne der Zünfte. Wichtige Faktoren waren auch Fachschulen, die seit dem Merkantilismus gefördert wurden, oder die Vermittlung von Qualifikationen in Klöstern, Burgen und Schlössern. Auch Verwaltung, Handel und vor allem die Landwirtschaft waren Orte der Bildung, wo formal, vor allem aber informell kulturelle und für das tägliche Arbeit erforderliche Kompetenzen vermittelt wurden.

Zurück zu Ihrem Buch. Corona hat eine Vernissage bisher leider verhindert. Wann wird das nachgeholt?
Das ist leider noch immer offen.

Wen würden Sie an dieser Vernissage gerne dabeihaben, wenn er oder sie noch leben würde?
Ich habe in meinem Materialienband, am Schluss des «Zettelkastens», 20 Personen genannt, die die Berufsbildung prägten – bewusst nur solche, die nicht mehr leben. Diese würde ich gerne begrüssen!

Wettstein, E. (2020): Berufsbildung. Entwicklung des Schweizer Systems. Bern, hep verlag. Mitglieder der SGAB erhalten das Buch statt für CHF 26.– für CHF 22.–. Um von diesem Rabatt zu profitieren, richten Sie Ihre Bestellung an die Geschäftsstelle der SGAB. Den Materialienband können Sie kostenlos über die Website des hep verlags beziehen.

Struktur und Entstehung des vorliegenden Buches

Emil Wettstein, Ihre Geschichte der Schweizer Berufsbildung enthält einen 56-seitigen Überblick, Vertiefungen auf 160 Seiten und einen über Internet zugänglichen Apparat. Warum diese Struktur?
Ich wollte ein schmales Buch verfassen, eher ein Fachbuch für Interessierte als eine wissenschaftliche Schrift. Der erste Teil gibt den Leserinnen und Lesern einen raschen Überblick über die Geschichte des Schweizer Systems. Der zweite Teil enthält Vertiefungen entlang von 33 Stichwörtern wie kaufmännische Bildung, Entwicklung der Berufsschulen oder Frauen in der Berufsbildung. Dieses Kapitel macht deutlich, wie unterschiedlich gewisse Entwicklungen in verschiedenen Branchen verliefen. Im dritten Teil mache ich die schriftlichen Quellen meiner Arbeit zugänglich. Dieser Apparat enthält neben der Bibliographie rund 1000 «Zettel» mit Zitaten, Statistiken, Hinweisen und anderen Fakten, welche die Basis für den Text bildeten, aber auch Details, die im Buch keinen Platz fanden. Dieser Teil ist auch für Personen zugänglich, die das Buch nicht oder noch nicht kaufen wollen.

In welcher Form bieten Sie diesen Apparat an?
Der Quellenband ist ein etwa 600-seitiges PDF, das man über eine Volltextsuche durchsuchen kann. Ich habe die darin enthaltenden Dokumente zudem beschlagwortet. Schliesslich verweise ich im Buch selber auf die mit Signaturen versehenen Dokumente. Ich werde das PDF für gewisse Zeit nach Bedarf aktualisieren und ergänzen – wie lange genau, weiss ich nicht.

Wie leicht war es, die Quellen zu finden?
Viel leichter als 1987, als ich die erste Fassung der «Entwicklung» schrieb, denn vieles ist heute im Netz verfügbar, unter anderem dank edudoc, einer Datenbank von IDES/EDK, die viel graue Literatur verfügbar macht. Im Netz finden sich aber auch zentrale amtliche Quellen wie behördliche Publikationen, Gesetze und ihre Botschaften, Berichte der Exekutiven, Stellungnahmen von Branchenverbänden oder Berichte aus Evaluationen und Forschungen. Relativ schlecht erfasst sind die Zeitschriften zur Berufsbildung. So fehlen in edudoc Teile von Panorama, fast der ganze Korpus der Blätter für den Zeichenunterricht, die später Blätter zur Berufsbildung und heute Folio heissen, aber auch die Zeitschrift zum kaufmännischen Bildungswesen. Eine weitere Ablage bildet die Bibliothek des EHB, die allerdings nur wenige digital zugängliche Dokumente im Volltext enthält.

Zitiervorschlag

Wettstein, E. (2020). Genese des Schweizer Sonderfalls. Transfer. Berufsbildung in Forschung und Praxis 5(2).

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