Mehr Erfolg durch Erkennen der eigenen Stärken und Schwächen
Zum Einfluss der emotionalen Intelligenz in technischen Berufen
Die Informatik ist ein anspruchsvolles, komplexes Berufsfeld, das von den Berufsleuten mehr als nur Fachkompetenz erfordert. Die vorliegende Studie zeigt, welche Schlüsselrolle die emotionale Intelligenz (EI) – die uns befähigt, die eigenen Emotionen wahrzunehmen, zu verstehen und zu regulieren – für eine erfolgreiche Ausbildung von Jugendlichen in der IT-Branche spielt. EI ist eine wirksame Kompetenz, wenn es gilt, gute Leistungen zu erzielen, denn Lernende mit hoher emotionaler Intelligenz können sich besser einschätzen, besser mit Stress umgehen und ihre Ressourcen mobilisieren. Die Studienergebnisse legen nahe, dass die Förderung von emotionalen Kompetenzen den Berufsbildungserfolg steigern könnte.
In der Berufsbildung, mehr noch in der IT-Branche, wird Erfolg oft auf rein technische Kompetenzen zurückgeführt. Selbstverständlich sind die Beherrschung von Programmiersprachen, Problemlösungsfähigkeit und rasche Anpassungsfähigkeit an neue Technologien unverzichtbare Kompetenzen. Dennoch deuten immer mehr Studien darauf hin, dass neben den Fachkompetenzen andere, überfachliche Kompetenzen einen massgeblichen Einfluss auf den Erfolg haben. Dazu gehören auch emotionale Kompetenzen.
Emotionale Intelligenz in der Berufsbildung
Lernende, die ihre Emotionen kontrollieren können, sind konzentrationsfähiger, lassen sich weniger von vorübergehenden Misserfolgen entmutigen.
Der Begriff «Emotionale Intelligenz» (EI) wurde von den Psychologen Mayer und Salovey (1990) eingeführt und bezeichnet die Fähigkeit, die eigenen Emotionen sowie die Emotionen von Mitmenschen wahrzunehmen, zu verstehen und mit ihnen umzugehen. Emotionale Intelligenz wird oft mit zwischenmenschlichen Beziehungen und Kommunikation in Verbindung gebracht, ist aber auch in technischen Berufen wie etwa der Informatik eine entscheidende Kompetenz. Die vorliegende Studie geht der Frage nach, wie es sich mit der EI in der beruflichen Grundbildung verhält und wie sie Lernende dabei unterstützen kann, ihre Kompetenzen besser einzuschätzen, handelt es sich dabei doch um eine grundlegende Kompetenz für den Umgang mit komplexen Aufgaben.
Die emotionale Intelligenz umfasst mehrere Dimensionen (Mayer & Salovey, 1997; Mayer et al., 2008). Zuerst einmal bezieht sie sich auf die Fähigkeit, die eigenen Emotionen zu erkennen und zu verstehen: Welche Gefühle, z.B. Frustration oder Stress, empfinden wir, wenn wir mit bestimmten Aufgaben konfrontiert sind, und weshalb? Weiter bezieht sich EI auf den Umgang mit diesen Emotionen: Wie lässt sich etwa Entmutigung in Motivation umwandeln, so dass wir weiterkommen? Und schliesslich erstreckt sich EI auch auf die Fähigkeit, Emotionen zu nutzen, um besser zu argumentieren und Entscheidungen und Handlungen an das eigene Empfinden anzupassen.
Im Bildungskontext kommt diesen Fähigkeiten eine entscheidende Rolle zu. Lernende, die ihre Emotionen kontrollieren können, sind konzentrationsfähiger, lassen sich weniger von vorübergehenden Misserfolgen entmutigen und können all ihre Ressourcen nutzen, um eine Aufgabe erfolgreich zu bewältigen. Deshalb ist emotionale Intelligenz auch als Prädiktor für den schulischen Erfolg bekannt (MacCann et al., 2020). Doch über Emotionsregulation hinaus kann emotionale Intelligenz auch die Fähigkeit des Individuums, Zugang zu den eigenen Emotionen zu finden und die eigenen Kompetenzen einzuschätzen, beeinflussen. Die vorliegende Studie befasst sich insbesondere mit dem Zusammenhang zwischen EI und der Selbsteinschätzungskompetenz und geht der Frage nach, ob Jugendliche mit besonders grosser EI ihre Stärken und Schwächen besser einschätzen können und ob sie deshalb erfolgreicher sind.
Studie in der IT-Branche
Um diese Frage zu beantworten, wurden 120 Lernende befragt, die eine berufliche Grundbildung im IT-Bereich absolvieren; ihr Altersdurchschnitt lag bei 18 Jahren. Die Probandinnen und Probanden durchliefen eine Reihe von kognitiven Tests, die eigens zur Bewertung von drei wichtigen fachlichen Kompetenzen – logisches und analytisches Denken sowie Programmierkenntnisse – in IT-Berufen entwickelt wurden. Nach jedem Test wurden die Lernenden aufgefordert, ihre eigene Leistung zu beurteilen, indem sie den Prozentanteil ihrer korrekten Antworten schätzten. Dank dieser Selbsteinschätzung konnten die Forschenden feststellen, wie realistisch die Lernenden ihre eigene Leistung beurteilen können.
Parallel dazu füllten die Probandinnen und Probanden einen Fragebogen aus, der ihre emotionale Intelligenz erfassen sollte. Ziel war es, herauszufinden, in welchem Mass EI den Jugendlichen bei der Einschätzung ihrer eigenen Kompetenzen hilft und ob ein direkter Zusammenhang zwischen dieser Fähigkeit zur korrekten Selbsteinschätzung und dem tatsächlichen Abschneiden in den kognitiven Tests besteht.
Probandinnen und Probanden mit besonders grosser EI schätzten ihre Kompetenzen realistischer ein als solche mit geringerer EI.
Die Ergebnisse waren eindeutig: Probandinnen und Probanden mit besonders grosser EI schätzten ihre Kompetenzen realistischer ein als solche mit geringerer EI. Das trifft auf alle getesteten Bereiche – logisches und analytisches Denken und Programmierkenntnisse – gleichermassen zu. Das Vermögen, sich selbst richtig einzuschätzen, wirkt sich direkt auf den Erfolg aus: Lernende, die ihre Leistungen objektiv einschätzen, schneiden am Ende besser ab. Das Resultat legt nahe, dass Personen mit grösserer EI ihre Stärken und Schwächen gut kennen und deshalb ihre Anstrengungen den Anforderungen anpassen und damit komplexe Aufgaben erfolgreicher bewältigen können.
Was können wir aus den Ergebnissen lernen?
Drei Mechanismen erklären, warum emotionale Intelligenz in IT-Berufen bessere Leistungen begünstigt:
- bessere Selbstwahrnehmung,
- bessere Selbsteinschätzung und
- die Fähigkeit, die für eine erfolgreiche Bewältigung einer Aufgabe benötigten Ressourcen zu mobilisieren.
1. Bessere Selbstwahrnehmung
Die erste Dimension der emotionalen Intelligenz ist die Fähigkeit, die eigenen Emotionen zu erkennen und zu verstehen (Mayer & Salovey, 1997; Brackett & Mayer, 2003). Personen mit grosser EI erkennen Emotionen wie etwa Stress vor einer Prüfung oder Freude nach Abschluss einer schwierigen Aufgabe, sobald diese auftreten. Das hilft ihnen, emotionale Reaktionen vorherzusehen und zu regulieren, bevor sie die Kontrolle über ihre Emotionen verlieren. Wer erkennt, dass sie/er in einer bestimmten Situation mit Stress reagiert, kann tief durchatmen, sich konzentrieren und somit verhindern, dass Stress die Leistung beeinträchtigt.
2. Bessere Einschätzung der eigenen Fähigkeiten und Grenzen
Wer seine Emotionen im Griff hat, dem gelingt es mithilfe der emotionalen Intelligenz, die eigenen Fähigkeiten besser einzuschätzen (Mayer et al., 2008; Udayar et al., 2020). Anders als Menschen, die sich von ihrem Stress oder ihrer Angst überwältigen lassen, gelingt es Menschen mit grosser EI, sich objektiver einzuschätzen. Sie kennen ihre Stärken, aber auch ihre Schwächen und können ihre Anstrengungen dorthin lenken, wo sie notwendig sind. Dank dieser realistischen Selbsteinschätzung kommen sie weiter, weil es ihnen gelingt, die eigenen Fehler zu korrigieren und mit der Zeit ihre Fähigkeiten zu verbessern. Eine Person, die sich selbst überschätzt, unterlässt es etwa, die notwendigen Anstrengungen zu unternehmen, um sich zu verbessern. Und wer sich unterschätzt, gibt mitunter zu schnell auf, weil er oder sie Aufgaben als unüberwindbar wahrnimmt. Personen mit grosser EI können dank ihrer realistischeren Selbstwahrnehmung genau diese Fehler vermeiden.
3. Ressourcen mobilisieren
Wer das Gefühl hat, seine Emotionen unter Kontrolle zu haben, und die eigenen Kompetenzen realistisch einschätzt, läuft weniger Gefahr, aufgrund mangelnder Ausdauer an schwierigen Situationen zu scheitern.
Schliesslich gelingt es Menschen mit grosser EI besser, ihre kognitiven und emotionalen Ressourcen zu mobilisieren. Lernende, die ihre Emotionen im Griff haben, können sich besser auf eine zu erledigende Aufgabe konzentrieren und lassen sich weniger von negativen Gedanken ablenken. Die Fähigkeit, alle verfügbaren Ressourcen zu mobilisieren, ist in Situationen mit hohem Druck, etwa in Prüfungssituationen oder bei komplexen Projekten, besonders wichtig. Eine andere Studie hat gezeigt, dass der Einfluss der EI auf die Leistung in Situationen mit grossem Stress mit dem Gefühl der Selbstwirksamkeit verknüpft ist, d.h. mit der Überzeugung, mit den emotionalen und Stress verursachenden Aspekten solcher Situationen fertig werden zu können (Udayar et al., 2020). Wer das Gefühl hat, seine Emotionen unter Kontrolle zu haben, und die eigenen Kompetenzen realistisch einschätzt, läuft weniger Gefahr, aufgrund mangelnder Ausdauer an schwierigen Situationen zu scheitern. Diese Menschen verlassen sich auf ihr Selbstwirksamkeitsgefühl (Bandura, 1986), d.h. auf die Überzeugung, dass sie eine Aufgabe bewältigen können. Diese Selbstwirksamkeit wird von der EI unterstützt und treibt diese Personen an, Herausforderungen zu meistern und weiterzukommen, selbst wenn Probleme auftauchen.
Mit anderen Worten: Emotionale Intelligenz funktioniert wie ein Filter, der es dem Individuum ermöglicht, sich objektiv zu betrachten und sich nicht von übermässigen Emotionen leiten zu lassen. Personen, denen es gelingt, mit Stress umzugehen und ihre Kompetenzen auch unter Druck realistisch einzuschätzen, sind somit bestens für den Erfolg gerüstet.
Auswirkungen auf die Berufsbildung
Die Berufsbildungsprogramme könnten etwa um Workshops erweitert werden, die den Lernenden aufzeigen, wie sie Emotionen erkennen und mit ihnen umgehen können.
Die Ergebnisse dieser Studie liefern interessante Ansätze zur Verbesserung der Lernendenausbildung, nicht nur in der IT, sondern auch in vielen anderen Branchen. Die Berufsbildungsprogramme könnten etwa um Workshops erweitert werden, die den Lernenden aufzeigen, wie sie Emotionen erkennen und mit ihnen umgehen können. Das würde junge Menschen im Umgang mit Stress unterstützen und ihre Fähigkeit, sich realistisch einzuschätzen, begünstigen (Dacre Pool & Qualter 2012; Hodzic et al., 2017). Die Workshops könnten Übungen beinhalten, in denen Lernende sich mit ihren Emotionen auseinandersetzen und/oder konstruktive Feedbacks, die die Lernenden ermutigen, sich über ihre Leistungen Gedanken zu machen und ihre Strategien anzupassen. Ziel ist es, ihnen Werkzeuge in die Hand zu geben, damit sie sich realistischer einschätzen und so ihre Anstrengungen in die richtige Richtung lenken, ihre Selbstwirksamkeit steigern und ihre Fähigkeiten mit der Zeit weiterentwickeln können. Auch Berufsbildungsverantwortliche können hier eine wichtige Rolle einnehmen, indem sie für die Bedeutung der emotionalen Intelligenz sensibilisieren und den Lernenden aufzeigen, wie sie EI in Situationen mit hohem Stress oder Druck gezielt einsetzen können.
Lernende, die diese Fähigkeit weiterentwickeln, sind besser auf herausfordernde Situationen vorbereitet, können ihre Leistungen realistisch einschätzen und die Ressourcen mobilisieren, die sie für die Bewältigung schwieriger Aufgaben brauchen. Diese Vorgehensweise könnte die Begleitung in der Berufsbildung verändern und Lernende auf einen gelungenen Einstieg in eine Berufswelt vorbereiten, die immer höhere Anforderungen stellt.
Bibliografie
- Bandura, A. (1986). Social foundations of thought and action: A social cognitive theory. Englewood Cliffs, NJ: Prentice-Hall.
- Brackett, M. A., & Mayer, J. D. (2003). Convergent, discriminant, and incremental validity of competing measures of emotional intelligence. Personality and Social Psychology Bulletin, 29(9), 1147-1158.
- Dunning, D., Heath, C., & Suls, J. M. (2004). Flawed self-assessment: Implications for health, education, and the workplace. Psychological Science in the Public Interest, 5(3), 69-106.
- MacCann, C., Jiang, Y., Brown, L. E. R., Double, K. S., Bucich, M., & Minbashian, A. (2020). Emotional intelligence predicts academic performance: A meta-analysis. Psychol Bull, 146(2), 150–186.
- Mayer, J. D., & Salovey, P. (1997). What is emotional intelligence? In P. Salovey & D. Sluyter (Eds.), Emotional development and emotional intelligence: Educational implications (pp. 3-31). New York, NY: Basic Books.
- Mayer, J. D., Roberts, R. D., & Barsade, S. G. (2008). Human Abilities : Emotional Intelligence. Annual Review of Psychology, 59(1), 507‑536.
- Olderbak, S., Semmler, M., & Doebler, P. (2018). Four-branch model of ability emotional intelligen ce with fluid and crystallized intelligence: A meta-analysis of relations. Emotion Review, 11(2), 166–183.
- Salovey, P., & Mayer, J. D. (1990). Emotional intelligence. Imagination, cognition and personality, 9(3), 185-211.
- Udayar, S., Fiori, M., & Bausseron, E. (2020). Emotional intelligence and performance in a stressful task: The mediating role of self-efficacy. Personality and Individual Differences, 156, 109790.
Zitiervorschlag
Favre, Y., Wenger, M., & Fiori, M. (2024). Zum Einfluss der emotionalen Intelligenz in technischen Berufen. Transfer. Berufsbildung in Forschung und Praxis 9(1).