Berufsbildung in Forschung und Praxis
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Lernen im Rahmen von selbst ausgewählten Projekten

Innovative Lernkultur bei Swisscom

Die Lernenden von Swisscom durchlaufen ihre Lehre im Rahmen von Projekten, die einen Tag bis maximal sechs Monate dauern. Eine explorative Fallstudie des EHB zeigt, dass die Lernenden mit dieser radikal anderen Form der Ausbildung zufrieden sind. Sie erschienen sehr reflektiert und fühlen sich gut auf das Leben nach der Ausbildung vorbereitet. Bei Swisscom ist man überzeugt, dass den Lernenden bereits viel zugetraut werden kann: Sie können eigenständig handeln, dürfen Fehler machen, können Verantwortung übernehmen und lassen sich bei Schwierigkeiten beraten. Die strukturellen Voraussetzungen für das Modell bilden Lernbegleiter/innen, die Projektplattform «Marketplace», eine flexible Arbeitsorganisation sowie die Kommunikation auf Augenhöhe.


Digitalisierung, eine sich schnell ändernde Arbeitswelt und neue Kompetenzanforderungen erfordern Veränderungen in der betrieblichen Ausbildung. Da ein wesentlicher Teil der dualen Berufsbildung am Arbeitsplatz stattfindet, ist die Lernkultur des Unternehmens1 entscheidend für eine zukunftsorientierte Sozialisation der Lernenden. Die Lernenden sollen heute zu selbständig mitgestaltenden, flexiblen, ICT-erfahrenen und problemlösungsorientierten Mitarbeitenden ausgebildet werden. Wie Unternehmen auf diese Anforderungen reagieren, ist das Thema einer qualitativen Studie zur betrieblichen Ausbildung in verschiedenen Unternehmen, unter anderem bei der Swisscom.2

Folgende Forschungsfragen lagen der Untersuchung zugrunde:

  • Welche Faktoren kennzeichnen die Lernkultur in der Ausbildung (Strukturen, aber auch Werte, Einstellungen und Überzeugungen)?
  • Wie arbeiten diese Faktoren zusammen?
  • Wie profitieren die Lernenden von der Lernkultur?

Die Lernenden suchen ihre Projekte selber im firmeninternen «Marketplace» aus – einem Online-Depository, in dem grundsätzlich alle Mitarbeitende von Swisscom Projektarbeiten für Lernende anbieten.

Strukturen für individuelle Lernwege

Der hohe Innovationsdruck in der Telekommunikationsbranche stellt hohe Erwartungen an die Wandlungsfähigkeit von Unternehmen, welche mit dem Konstrukt der Agilität umschrieben werden kann.3 Ein grundlegender Aspekt der Lernkultur bei Swisscom ist das «Hineinwachsen» der nächsten Generation in dieses Paradigma. Die agile Arbeitsorganisation ist durch iterative (sich wiederholende) Arbeitsprozesse, die auf das (sich ändernde) Kundeninteresse ausgerichtet sind, sowie flache Hierarchien und eine Verantwortungsverlagerung von Vorgesetzten an ihre Teams gekennzeichnet. Das Unternehmen hat die berufliche Grundbildung ab dem Jahr 2003 schrittweise neu geordnet. Seit 2004 wird das neue Ausbildungsmodell flächendeckend umgesetzt. Die Lernenden absolvieren ihre Lehre im Rahmen einer Reihe von Einzelprojekten, die meist zwischen vier bis sechs Monate dauern. Die Lernenden suchen ihre Projekte selber im firmeninternen «Marketplace» aus – einem Online-Depository, in dem alle Mitarbeitende von Swisscom Projektarbeiten für Lernende anbieten können. Die Jugendlichen stehen dabei im Wettbewerb um besonders interessante Projekte und müssen sich jeweils neu bewerben. Sollte einmal kein Projekt gefunden werden, können Aufgaben zur Vorbereitung auf ein neues Projekt übernommen werden. Lernbegleiter/innen unterstützen die Lernenden bei der Suche nach Projekten oder beim Entwickeln eines eigenen Projektes. Sie halten regelmässig Besprechungen zum Stand des Kompetenzerwerbs und stehen zur Verfügung, wenn Fragen oder Schwierigkeiten auftreten. Dies kann auch persönliche Themen betreffen. Die Lernbegleiter/innen stellen sicher, dass die Lernenden im Verlauf ihrer Lehre alle im Bildungsplan vorgegebenen Kompetenzen erwerben, sie sind verantwortlich für die Leistungsbeurteilung im praktischen Bereich und sind Ansprechpartner/innen für die Berufsfachschule. Die Lernbegleiter/innen sind formal die Vorgesetzten der Lernenden.

Mit dem Marketplace hat sich der Ablauf der Ausbildung im Betrieb verändert. Es ist mehr Raum für die Verfolgung persönlicher Interessen geschaffen worden. Darüber hinaus ist es möglich, neue Herausforderungen zu wählen, initiativ zu werden, kreativ zu arbeiten und eine grosse Anzahl Mitarbeitende sowie unterschiedliche Aufgaben und Arbeitsumgebungen kennenzulernen. Die Lernenden werden vertraut mit neuen Formen der Arbeitsorganisation wie der flexiblen Arbeitszeitregelung, Telework, oder der Arbeit in unterschiedlichen Sprachregionen der Schweiz. Ebenso können die Lernenden in Räumen arbeiten, die auf eine innovative Arbeitsweise ausgelegt sind, Co-Working-Spaces etwa, oder die «Kickbox» nutzen, ein Tool zur Sammlung von Ideen von Mitarbeitenden, von denen die besten umgesetzt werden.

Arbeit im «Real Business»

Es gibt keine Kurse, die vor der produktiven Arbeit absolviert werden. «Erst einmal machen» gilt für viele als Voraussetzung fürs Lernen.

Die Lernenden werden von Anfang an in die regulären Arbeitsprozesse eingebunden, wie die interviewten Personen betonen. Es gibt keine Kurse, die vor der produktiven Arbeit absolviert werden. «Erst einmal machen» gilt für viele als Voraussetzung fürs Lernen. Wichtig sei, dass man dabei nicht den Anspruch hat, alles perfekt zu machen. Fehler gehören dazu, die Lernenden müssen «die Komfortzone verlassen», wie ein Lernbegleiter sagt. Eingespannt in die alltägliche Arbeit, werden die Lernenden bald als vollwertige Arbeitskräfte wahrgenommen: «Man wird nicht einfach irgendwie beschäftigt, sondern wird in den Projekten gebraucht», sagt ein Lernender. Die Kommunikation in den Teams erfolgt auf Augenhöhe, man ist im ganzen Unternehmen untereinander per du.

Weil die Lernenden in verschiedenen Projekten arbeiten, müssen sie sich immer wieder in neuen Arbeitskontexten zurechtfinden. Viele erzählen, dass sie dadurch selbständiger und offener geworden sind. Die Lernenden schätzen ihren Kompetenzerwerb im fachlichen Bereich als hoch ein, wobei der Lernzuwachs stark mit der Projektauswahl zusammenhängt. Ein Lernender konnte beispielsweise im «Account Management» die Verantwortung für einen Teil der Projekte übernehmen und erzählt: «Nach gewisser Zeit hat mir eigentlich nicht gross jemand reingeredet, weil sie das Vertrauen gehabt haben».

Die Arbeit in immer wechselnden Projekten und Arbeitskontexten wird von manchen Lernenden als hart beschrieben. Der «Welpenschutz» sei im Vergleich mit anderen Firmen geringer. «Die ersten ein oder zwei Semester sind sicher hart; aber wenn man sich danach daran gewöhnt hat, profitiert man eigentlich nur noch davon, weil es einem darauf vorbereitet, was danach kommt». Von den Lernenden wird viel erwartet; ihnen wird durch die Projektwechsel und die Arbeit im «Real Business» von Anfang an sehr viel zugetraut, gerade auch, weil die Projekte an verschiedenen Standorten durchgeführt werden, was häufiges Reisen erfordern kann.

Unterstützte Reflexionsphasen

«Wenn ein Lernender nicht gut arbeitet, ist es wichtig, dass der fachliche Ausbilder sagt: ‚Für mich ist das fertig. Ich kann dich nicht gebrauchen, so wie du arbeitest. Du verlierst die Arbeit in dem Projekt’.»

Die selbständige Gestaltung der Lehre durch die Lernenden erfordert eine hohe Reflexionsfähigkeit. Für ihre Förderung ist die Lernbegleitung zentral. Die Lernbegleiter/innen brauchen ein Verständnis für die verschiedenen Berufe der Lernenden. Um die Lernenden bei der Projektsuche zu unterstützen, müssen sie einschätzen können, welches Projekt passen könnte. Sie brauchen aber kein umfassendes Fachwissen, denn die fachliche Ausbildung geschieht in den Projekten. Die Lernbegleiter/innen geben den Lernenden Rückmeldungen und regen sie zur Reflexion an. Um die fachliche Leistung der Lernenden zu beurteilen, informieren sie sich bei den fachlichen Betreuer/innen in der Linie, welche die Leistung der Lernenden spätestens jeweils nach Abschluss eines Projekts auch formal beurteilen.

Nach Auffassung vieler Lernbegleiter/innen sind Feedbacks wichtig und wirksam. Fehler und deren Konsequenzen werden möglichst rasch besprochen, sodass Lernprozesse stimuliert werden können. Ein Lernbegleiter erwähnte folgendes Beispiel: «Wenn ein Lernender nicht gut arbeitet, ist es wichtig, dass der fachliche Ausbilder sagt: ‚Für mich ist das fertig. Ich kann dich nicht gebrauchen, so wie du arbeitest. Du verlierst die Arbeit in dem Projekt’. Solche Hinweise können bei den Lernenden zunächst einen «Schock» auslösen; durch die Unterstützung der Lernbegleiter/innen wird daraus aber bald „ein Lernen aus Fehlern“.

Die Lernenden sind zunehmend für die Planung ihres Lernwegs verantwortlich. Diese Gestaltungsfreiheit kann auch zu Fehlentscheidungen führen, etwa wenn Lernende sich für ein bestimmtes Gebiet besonders interessieren und ausschliesslich dort arbeiten möchten. Wenn noch wichtige Kompetenzen etwa zum Bestehen der praktischen Abschlussprüfung fehlen, machen die Lernbegleiter/innen die Lernenden darauf aufmerksam. Gleichzeitig muss die Lernbegleitung individuelle Potenziale oder Begabungen erkennen und fördern. Man kann die Motivation und «das Feuer für die Sache» gerade dann erhalten, wenn man die Lernenden individuell dort fördert, «wo ihre Stärken sind und wo ihr Potenzial ist», wie eine Lernbegleiterin erzählt.

Durch die Projektwahl sind die Lernenden immer wieder gezwungen, sich mit dem eigenen Lernstand auseinanderzusetzen: «Sie müssen mit dem Frust umgehen können, wenn sie ein Projekt nicht bekommen, müssen sich entscheiden, was sie machen wollen und wissen, was sie interessiert, und sie freuen sich natürlich, wenn sie für ein beliebtes Projekt ausgesucht worden sind». Bei vielen Lernenden ist eine hohe Reflexionsfähigkeit erkennbar. Sie sind sich bewusst, wo sie in ihrer Lehre stehen und wie es weitergehen soll, auch nach der Lehre.

«Die Initiative ergreifen»

Lernende, die ein eigenes Projekt initiiert haben, sind oft sehr motiviert und leisten weit mehr, als erwartet wird. Das Unternehmen belohnt sie dafür.

Die Lernenden haben viele Möglichkeiten, ihren Lernprozess zu steuern. Aber sie müssen selber nach den Projekten und Lernmöglichkeiten recherchieren, diese anbahnen oder sich dafür bewerben. Ein Lernbegleiter erzählt, dass die Lernenden zu Beginn der Lehre ohne Führung wenig Ausdauer hätten und noch nicht gut eigenständig arbeiten können. Sie müssten vor allem lernen, für sich Verantwortung zu übernehmen. Die Lernbegleiter/innen ermutigen die Lernenden, die Initiative zu ergreifen, wenn sie zum Beispiel mit einem Tool oder einem Vorgehen nicht zufrieden sind. Die Lernbegleiter/innen agieren auch als Vorbild, indem sie sich für eine Verbesserung im Bereich Berufsbildung engagieren oder neue Vorschläge einbringen. Ein Lernender erzählt, dass er immer mehr eigene Projekte initiiert habe. Er ist aktiv auf Abteilungen zugegangen, die ihn interessierten, und hat mit diesen Leuten Projekte definiert. «Das generiert die besseren Projekte als die, die 08/15 alle sechs Monate auf dem Marketplace ausgeschrieben werden.»

Einige Lernende versuchen, sich mit bestimmten Technologien zu beschäftigen, um Kompetenzen zu erwerben, die am Arbeitsmarkt besonders nachgefragt werden. Die Kompetenzprofile und Tätigkeitsfelder der regulären Mitarbeitenden des Unternehmens sind öffentlich und erlauben den Lernenden, Kontakt aufzunehmen und ein Projekt anzustossen. Dieser Schritt ist für die Lernenden schwierig, aber auch hier werden sie von der Lernbegleitung unterstützt. Lernende, die ein eigenes Projekt initiiert haben, sind oft sehr motiviert und leisten weit mehr, als erwartet wird. Das Unternehmen belohnt sie dafür; so dürfen Lernende in aussergewöhnlichen Projekten mitarbeiten oder dürfen an einen Projektstandort ins Ausland fahren. Besonders gute Lernende erhalten auch Angebote zur Mitarbeit.

Literatur

  • Argyris, C. (2009): On organizational learning. 2. Edition, Malden.
  • Argyris, C.; Schön, D. A. (1999): Die Lernende Organisation. Grundlagen, Methode, Praxis. Stuttgart.
  • Krapf, J.  & Seufert, S. (2017) Lernkulturentwicklung als Ansatz zur Steigerung der Agilität von Teams – Reflexion einer gestaltungsorientierten Forschung. bwp@ Ausgabe Nr. 33.
  • Schilling, J.; Kluge, A. (2004): Können Organisationen nicht lernen? Facetten organisationaler Lernkulturen. In: Gruppendynamik und Organisationsberatung 35, 4. 367-386.
1 Argyris 2009, Schilling & Kluge 2004, Argyris & Schön 1999
2 Link zur Projektseite und den bisherigen Publikationen: https://www.ehb.swiss/project/dimensionen-lernkulturen
3 Krapf & Seufert 2017

Methodisches Vorgehen

Die explorative Fallstudie basiert auf ergebnisoffenen Fragen und ist aufgrund ihres anthropologischen Charakters nicht durch Hypothesen oder einen bestimmten theoretischen Rahmen vorbestimmt. Vielmehr verweisen ihre Ergebnisse auf bestimmte Charakteristika der Ausbildung bei Swisscom, die als wegleitend für die Telekommunikationsbranche erachtet werden können.
Swisscom hat mehr als 17.000 Mitarbeitende, davon sind etwa 900 Lernende. Insgesamt wurden siebzehn Lernende (der Berufe: Informatiker/in, Mediamatiker/in, Interactive Media Designer, Kauffrau/-mann, Detailhandelsfachfrau/-mann, Fachfrau/-mann Kundendialog, ICT-Fachfrau/-mann), fünf Lernbegleiter/innen, drei fachliche Betreuer/innen, sowie vier Personen im Management Berufsbildung des Unternehmens befragt. Die Interviews dauerten 30 bis 60 Minuten und fanden an den jeweiligen Lern- und Arbeitsorten der Interviewten statt. Weiter wurden Beobachtungen in verschiedenen Arbeitskontexten durchgeführt, zum Beispiel in einem durch Lernende geführten Swisscom-Shop.

Zitiervorschlag

Keller, A., & Barabasch, A. (2019). Innovative Lernkultur bei Swisscom. Transfer. Berufsbildung in Forschung und Praxis 4(2).

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