OKB-Symposium 2017 zur Lernortkooperation
Wie aus Vertrautheit Vertrauen wird
Die Zusammenarbeit der drei Lernorte ist eine ständige, anspruchsvolle Aufgabe in der Berufsbildung. Diese Lernortkooperation stand im Zentrum des OKB-Symposiums von Ende 2016. Die Referenten waren sich einig: Noch finden sich nur wenige Beispiele für eine gelungene Lernortkooperation. Josef Widmer, Vizedirektor Staatsekretariat für Bildung, Forschung und Innovation (SBFI) sieht die Verantwortung für eine Verbesserung der Situation in der organisatorische Zuständigkeit der Berufsfachschulen. Dieter Euler erkundete in seinem Referat die Frage, was Lernortkooperation denn erschwere. Eine seiner Thesen: Die Berufsbildung funktioniert auch ohne sie. Wir dokumentieren den Vortrag.
Zwischen dem Selbst-und dem Unverständlichen – Warum fällt Berufsbildungsverantwortlichen das Zusammenarbeiten oft so schwer?
Übersicht
1. Lernortkooperation – ein Tummelfeld für Idealisten?
2. Lernortkooperation – notwendige Klärungen
3. Erkenntnisse: Wie intensiv wird in / zwischen den Lernorten kooperiert?
4. Bekenntnisse: Warum sollte (intensiver) in / zwischen den Lernorten kooperiert werden?
5. Rahmenbedingungen: Was verhindert / unterstützt eine Lernortkooperation?
6. Ermutigendes: Beispiele für Formen einer sinnvollen Lernortkooperation
Ich leite meinen Vortrag mit zwei Thesen ein. Die erste ist, dass alle Fachleute im Gebiet die Lernortkooperation für erweiterungsfähig halten, aber niemand dafür die Initiative übernimmt. Normalerweise kümmert sich, wer ein wichtiges Problem hat, darum und versucht, es zu lösen. Dass dies nicht geschieht, zeigt, dass der Problemdruck durch mangelhafte Lernortkooperation offenbar gering ist. Lernortkooperation scheint nur nice to have zu sein. Das führt zur zweiten These: Berufliche Grundbildung funktioniert zwar auch ohne intensive Lernortkooperation. Aber Lernortkooperation ist ein Konzept, das die berufliche Grundbildung weiterbringen kann. Wer in der pädagogischen Champions League mitspielen will, sollte sie besser nutzen.
Aber Lernortkooperation ist ein Konzept, das die berufliche Grundbildung weiterbringen kann. Wer in der pädagogischen Champions League mitspielen will, sollte sie besser nutzen.
1. Es gibt sehr unterschiedliche Bilder der Lernortkooperation. Idealisten stellen engagierte Pädagogen in den Vordergrund, die sich in den Dienst des Ganzen stellen. Miesmacher kommentieren, dass vor allem der kluge Egoist kooperiere, der damit die eigenen Vorteile pflege. Eine nüchterne Position stellt fest: Die meisten Bildungsverantwortlichen in allen drei Lernorten begrüssen zwar eine Ausweitung der Lernortkooperation, sehen für sich persönlich aber keinen Veränderungsbedarf. Auf dieser Basis entsteht keine Initiative, berufliche Grundbildung funktioniert eben auch ohne Lernortkooperation ganz gut. Lernortkooperation ist ein anspruchsvolles Konzept, das gewissermassen im Villenviertel der Berufsbildung zu Hause ist. Aus dem Problem der Lernortkooperation wird vor diesem Hintergrund das, was man in England «Elephant in the room» nennt: Ein Problem, das zwar unübersehbar vorhanden ist, über das man aber nicht zur Kenntnis nimmt.
2. «Lernortkooperation» ist kein genauer Begriff, denn der einzige Lernort in der beruflichen Bildung ist die lernende Person. Was wir als Lernorte bezeichnen, sind Lehrorte – eine für die Pädagogik nicht untypische Ungenauigkeit. Ich werde hier dennoch von Lernort sprechen. Der Begriff ist zudem insofern nicht präzis, als der betriebliche Lernort gleicher beruflicher Grundbildungen sehr unterschiedlich ausgestaltet sein kann. Jedes Unternehmen hat eine eigenständige Praxis; die kaufmännische Berufslehre in einer Bank verläuft hochgradig anders als die in einer Versicherung. Das Krankenbett, die Baustelle, die Werkstatt – diese Lernorte sind unterschiedlich gut für das Lernen geeignet. Auch die Lernortkooperation selber kann sehr unterschiedlich sein. In der Literatur hat sich eine dreistufige Intensitätsskala etabliert, auf deren unterster Stufe die gegenseitige Information steht. Betrieb und Schule informieren sich etwa über die Leistungen des Lernenden oder tauschen Materialien aus. Auf der zweiten Stufe sprechen sich die Lernorte darüber ab, wann welcher Lernort welche Inhalte vermittelt. Nicht selten ist darum von Lernortkoordination die Rede. Weil sie den Lernorten aber weitgehende Autonomie in der Umsetzung lässt, ist das im strengen Wortsinn keine Lernortkooperation, in der die Lernorte aktiv an der Erreichung eines gemeinsamen Ziels arbeiten. Erst dann ist die Hochform der Lernortkooperation erreicht – in der gemeinsamen Entwicklung von Unterrichtsmaterialien, der gemeinsamen Weiterbildung, der gemeinsamen Durchführung von Projekten. Auch das sogenannte Gleichlaufcurriculum ist ein Produkt hoch entwickelter Lernortkooperation, auf dessen Basis an verschiedenen Lernorten zur gleichen Zeit gleiche Inhalte vermittelt werden. In der Realität finden wir kaum solche Curricula. Meist werden bestimmte Themen zu ungleichen Zeitpunkten behandelt – eine für die Lernenden ungünstige Tatsache. Eine letzte Klärung betrifft die Zuordnung von Theorie zu Schule und Praxis zu Betrieb. Diese schematische Zuordnung entspricht nicht der Wirklichkeit, da kein Betrieb ohne Theorie und wenig Unterricht ohne Anwendungsbezug auskommen. Theorie und Praxis bilden nicht die Demarkationslinie zwischen den Lernorten, auch wenn die Art der Theorie zwischen Betrieb, üK und Schule divergieren mag: Im Betrieb finden wir eher betriebsspezifische Formen der Theorievermittlung , während im überbetrieblichen Kurs branchenbezogene und in der Schule branchenübergreifende Theorie vermittelt wird.
Die meisten Bildungsverantwortlichen in allen drei Lernorten begrüssen zwar eine Ausweitung der Lernortkooperation, sehen für sich persönlich aber keinen Veränderungsbedarf.
3. Die Thalis-Studie der OECD (1) zeigte, dass besonders Lehrpersonen kooperieren, die hoch motiviert sind, eine hohe Berufszufriedenheit sowie ein hohes Kompetenzerleben haben. Man kann diesen Zusammenhang in beide Richtungen lesen: Man kann sagen, dass motivierte Lehrpersonen, die in ihrem Beruf zufrieden sind und ein hohes Kompetenzerleben besitzen, eher kooperieren. Daraus lässt sich schliessen, dass viele vielleicht Lehrpersonen darum nicht kooperieren, weil sie Angst haben, als nicht so sattelfest wahrgenommen zu werden. Man kann aber auch umgekehrt sagen, dass Kooperation diese positiven Berufsaspekte unterstützt, dass Kooperation also Motivation, Zufriedenheit und Kompetenz fordert und fördert.
Eine ältere Untersuchung zur Lernortkooperation in Deutschland auf Basis von 3000 Betrieben ergab, dass sich 26% als kooperationsabstinent bezeichnen. Sporadisch kooperieren 33%, sie nehmen auf einer niedrigen Intensitätsstufe der Lernortkooperation etwa an Informationsveranstaltungen teil. Kontinuierlich probleminduziert (z.B. bei Ausbildungsproblemen) kooperieren etwa 7% und kontinuierlich fortgeschritten (regelmässige Kontakte, auch in didaktischen Fragen) immerhin 34%. Dass 41% der Befragten in einer kontinuierlichen Lernortkooperation begriffen sind, die mehr umfasst als den Austausch von Informationen, erscheint noch steigerungsfähig.
Die Analyse der Kooperationsanlässe in den Lernorten zeigt, dass vor allem bei Lernschwierigkeiten der Berufslernenden (68% Betriebe, 75% Schule) kooperiert wird. Weitere wichtige Anlässe sind Disziplinprobleme (47% Betriebe, 54% Schule) und zeitliche oder organisatorische Abstimmungen (33% Betriebe, 27% Schule). Didaktische Fragen bilden eher selten den Anlass einer Kooperation (15% Schule, 3% Betrieb). Wenn sie stattfindet, bewegt sich Lernortkooperation also am Rande der Lernprozesse. Sie greift dann, wenn der Lernende als Problem oder Verwaltungsfall auftritt. Das sehen Berufslernende ähnlich: Nur 8% bejahten die Feststellung, dass die Ausbildung in den Lernorten inhaltlich und zeitlich gut aufeinander abgestimmt sei. Mit «teilweise» antworteten 42%, keine Lernortkooperation stellten 50% fest. Das ist kein sehr schmeichelhaftes Ergebnis.
4. Berufliche Grundbildung funktioniert auch ohne intensive Lernortkooperation. Dennoch möchte ich einige Gründe geben, weshalb die Lernortkooperation verstärkt werden sollte.
a) Die Heterogenität der Lernenden nimmt zu, was ihr Alter, ihr Vorwissen, ihre kulturellen Prägungen betrifft. Berufsfachschulkassen sind extrem heterogen zusammengesetzt. Eine kleine Erhebung von Michèle Collenberg (IWP) an der Wirtschaftsschule KV Baden ergab beispielsweise, dass 44% der Lernenden einen Migrationshintergrund besitzen; ihre kulturellen Wurzeln liegen in 46 verschiedenen Ländern. Es ist anspruchsvoll, mit diesen Voraussetzungen umzugehen, und erfordert Gespräche, also Kooperation.
b) Schule und Betriebe sind Teil der Gesellschaft und damit konfrontiert mit einer Vielzahl von Problemen – mediale Einflüsse, Gewalt, Drogenkonsum. Eine einzelne Lehrperson oder Ausbildner ist überfordert, das alles alleine zu bewältigen. Einzelkämpfer sind im Lehrberuf immer mehr überfordert, Problemlösung erfordert multiprofessionelle Teams.
c) Lehrende können über die Lernortkooperation Entlastung erfahren, und – nach einer gewissen zeitlichen Investition – die Probleme auf mehrere Schultern verteilen. Über die Kooperation mit anderen Bildungsverantwortlichen können Motivation und Berufszufriedenheit wachsen und neue Ideen entstehen.
d) Pädagogische Rhetorik im Klassenzimmer oder im Betrieb unterstreicht nicht selten die hohe Wichtigkeit von Teamfähigkeit und Teamprozessen. Über die Kooperation mit dem Bildungspartner schaffen die Bildungsverantwortlichen ein Rollenmodell dafür. Wenn Lernende aber umgekehrt erleben, dass die Lernorte nebeneinander oder gar gegeneinander arbeiten, erleben sie das Gegenteil dessen, was gepredigt wird. Berufslernende sind für solche Widersprüche sensibel.
e) Lernortkooperation erlaubt es schliesslich, fragmentiertes Wissen zu einem Ganzen zusammenzufügen. Sie kann dazu beitragen, Lerninhalte aus verschiedenen Perspektiven zu erschliessen und so das Verständnis bei den Lernenden weiter zu stärken.
Wenn sie stattfindet, bewegt sich Lernortkooperation also am Rande der Lernprozesse. Sie greift dann, wenn der Lernende als Problem oder Verwaltungsfall auftritt.
5. Lernortkooperation wird durch verschiedene Faktoren erschwert. Einer davon ist die psychologische Distanz zwischen den Lehrenden im Betrieb, in den überbetrieblichen Kursen und in der Schule. Sie entsteht durch die unterschiedliche Einbindung in die jeweilige Organisation, durch unterschiedliche berufliche Sozialisationswege und Autonomiegrade. Dabei ist es erwiesen, dass Personen eher kooperieren, wenn sie sich ähnlich sind. Eine weitere Erschwernis ergibt sich dadurch, dass in einer Kooperation zwar Stärken wirksam, aber auch Schwächen sichtbar werden können. Wenn Bildungsverantwortliche unsicher sind, kann sie das hindern, zu kooperieren. Kooperation bedeutet zudem eine Einbusse von Autonomie, denn sie verpflichtet zu Kompromissen und zur Einhaltung von Vereinbarungen. Und sie führt unter Umständen zu einer gewissen Einbusse an Macht. Man hat herausgefunden, dass in Gruppenarbeiten meist gemeinsames Wissen ausgetauscht wird. Interessant würden Gruppenarbeiten aber dann, wenn nicht-geteiltes Wissen mitgeteilt würde. Damit aber büsst man einen Vorsprung ein – ein subtiler Grund, warum manche Menschen nicht kommunizieren, nicht kooperieren. Schliesslich erfordert Lernortkooperation auch zeitliche Investitionen, die sich erst mittelfristig entlastend auswirken. Es dauert seine Zeit, bis aus Vertrautheit mit dem anderen Vertrauen wird.
Lernortkooperation ist eine komplexe Aufgabe, die intrinsische Überzeugungen voraussetzt. Man kann niemanden zur Kooperation zwingen. Zudem sollte Kooperation erfahrungsbasiert sein; wer kooperiert, soll vom Sinn der Zusammenarbeit nicht nur überzeugt sein, sondern Beispiele kennen, die zeigen, dass sich diese lohnt. Das bedeutet, dass ansteckende Vorbilder zur Verfügung stehen. Ebenso müssen gute Anlässe zum Einstieg in eine Lernortkooperation bestehen, die in eine Entwicklungsdynamik münden. Diese Anlässe zu schaffen ist eine Führungsaufgabe. Gibt ein Rektorat hingegen zu verstehen, dass sie Lernortkooperation zwar gut findet, aber nicht ernsthaft fördert, werden auch die Lehrpersonen sie als wenig bedeutsam erachten.
6. Ich nenne zum Abschluss drei ermutigende Beispiele für die Lernortkooperation, die auf den drei genannten Intensitätsstufen angesiedelt sind.
Auf der Ebene des systematischen Austausches von Information sind viele gute Beispiele zu erwähnen. Eines ist der heutige Anlass des OKB, der Bildungsverantwortliche aller Lernorte zusammenführt. Auf der Ebene der Koordination erwähne ich ein Entwicklungsprojekt, bei dem die Lernenden kooperativ formulierte Erkundungsaufträge auszuführen hatten. In der Berufsfachschule erhalten die Lernenden zu einem Thema den Auftrag, die jeweilige Praxis im eigenen Lehrbetrieb zu erkunden. Dazu besorgen sie sich relevante Materialien, interviewen ihre Betreuer und präsentieren die Ergebnisse wieder in der Schule. Auf der Ebene des Zusammenwirkens geht es beispielsweise um die kooperative Entwicklung von Frage-, Aufgaben- und Problemstellungen zu Kernthemen der Ausbildung. Deren Bearbeitung kann die unterschiedlichen Perspektiven aus betrieblicher Praxis und Schule auf einen Sachverhalt aufnehmen und verzahnen.
Im hellen Licht der Ideale sieht jeder blass aus! Das Kritische der Ausführungen besteht darin, dass Lernortkooperation insbesondere in den anspruchsvolleren Formen des Zusammenwirkens eher die Ausnahme darstellt. Das Positive kann darin gesehen werden, dass hier viele ungehobene Potenziale zur Weiterentwicklung der Ausbildung bestehen.
1 http://www.oecd.org/berlin/publikationen/talis-2013.htmHandbuch Euler (Hrsg.) 2004: Handbuch der Lernortkooperation. Band 1: Theoretische Fundierungen, Bielefeld W. Bertelsmann Verlag.
Zitiervorschlag
Euler, D. (2017). Wie aus Vertrautheit Vertrauen wird. Transfer. Berufsbildung in Forschung und Praxis 2(1).