Berufsbildung in Forschung und Praxis
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Förderung der Grundkompetenzen in Lernstuben

Der Weg zurück ins Land des Lernens

Das Bundesgesetz über die Weiterbildung von 2017 beauftragt Bund und Kantone dafür zu sorgen, dass Erwachsene Grundkompetenzen erwerben und erhalten können. Gestützt darauf hat der Kanton Zürich das Programm Grundkompetenzen erarbeitet, deren Kernelement die Einrichtung von Lernstuben bildet. Wer besser lesen, schreiben oder rechnen will, Unterstützung bei der Bewerbung oder in modernen Technologien braucht, findet hier kostenlose Angebote und Beratung. Lernstuben sind inzwischen in fünf Zürcher Regionen zu finden; das Angebot soll weiter ausgebaut werden.


Als er sich das letzte Mal bewarb, wurden Bewerbungen noch handschriftlich geschrieben und per Post verschickt. Nun merkte er, dass er weder mit dem Computer umgehen kann noch weiss, wie ein Bewerbungsprozess abläuft.

«Die Menschen, die eine Lernstube besuchen, sind oft an einem Punkt angekommen, an dem sie merken, dass ihre Kompetenzen für die Bewältigung des Alltags, die Stellensuche oder die digitalen Anforderungen nicht mehr reichen», sagt Mirjam Brotz, Lernstuben-Animation der Lernstube Kloten und Sozialarbeiterin. Ein Beispiel dafür ist ein 60-jähriger Mann, der fast sein ganzes Leben lang für eine Firma arbeitete und wegen Corona die Stelle verlor. «Als er sich das letzte Mal bewarb, wurden Bewerbungen noch handschriftlich geschrieben und per Post verschickt. Nun merkte er, dass er weder mit dem Computer umgehen kann noch weiss, wie ein Bewerbungsprozess abläuft. So wie ihm geht es vielen unseren Besuchenden: Sie sind überfordert», sagt Mirjam Brotz.

Um Menschen wie ihn zu unterstützen, hat der Kanton Zürich 2021 das Programm Grundkompetenzen gestartet, vom Kantonsrat einstimmig unterstützt. Es ist bis 2024 befristet und kostet 14,8 Millionen Franken, in die sich Bund und Kanton teilen. Umgesetzt wird das Programm unter anderem in Form von Lernstuben, wo Erwachsene beraten werden und an ihren Grundkompetenzen arbeiten können. Denn die Arbeitsmarktfähigkeit von Menschen sinkt, wenn sie mit Lesen, Schreiben, Rechnen Mühe haben oder nicht wissen, wie man mit dem Computer umgeht. Mit einer gezielten Förderung der Grundkompetenzen können auch ökonomische Folgekosten gesenkt werden: Pro Jahr gibt der Kanton Zürich rund 224 Millionen Franken aus, um die aus einer Leseschwäche resultierenden Kosten, wie beispielsweise längere Arbeitslosigkeit, zu beheben. «Mit dem Programm schliessen wir eine Lücke, denn vor 2021 fehlten im Kanton Zürich niederschwellige Angebote im Bereich der Grundkompetenzen», sagt Brigitta Aschwanden, Projektleiterin des Programms Grundkompetenzen für Erwachsene beim Mittelschul- und Berufsbildungsamt der Zürcher Bildungsdirektion.

Breite Zielgruppe

«Die Lernstuben sind unter anderem vom angelsächsischen Raum inspiriert, wo es sogenannte Learningcenters gibt, aber auch von den Lernzentren der Volkshochschule beider Basel», erläutert Brigitta Aschwanden. Mit der Namensgebung «Stube» betone man die familiäre Atmosphäre: Die Besuchenden sollen sich wohl und willkommen fühlen. Die Hauptzielgruppe sind Menschen, die ihre Schulzeit in der Schweiz verbracht und aus unterschiedlichen Gründen mangelhafte Grundkompetenzen haben. «Die meisten können durchaus ein wenig lesen oder schreiben», erklärt Brigitta Aschwanden. Sie hätten aber Mühe, komplexere Texte zu verstehen oder relevante Informationen zu erkennen; zudem seien sie grammatikalisch unsicher und würden das Schreiben eher vermeiden. «Lesen und Schreiben gehören zu den Kompetenzen, die regelmässig geübt werden müssen: Use it or lose it», sagt Brigitta Aschwanden.

Lernstuben verbreiten eine gemütliche Atmosphäre; das Lernen ist dann anstrengend genug. Foto: Egelmair Photography

Ganz klar lässt sich die Zielgruppe in der Alltagsrealität aber nicht einschränken. So seien auch Menschen mit Migrationshintergrund in den Lernstuben willkommen. Allerdings, so Brigitta Aschwanden, ersetzt der Besuch nicht den Deutschkurs. Auch altersmässig seien die Lernstuben durchmischt. «Die sogenannt Digital Natives können zwar gut mit dem Handy umgehen, gamen oder Social-Media-Kanäle nutzen. Wenn es aber darum geht, aktiv etwas zu machen, Informationen zu suchen und zu filtern oder etwas zu schreiben, brauchen einige Unterstützung», weiss Brigitta Aschwanden. Ältere Semester müssten den Umgang mit dem Computer oft überhaupt erst lernen.

Lückenhafte Lebensläufe

Freiwilligenarbeit gebe den Leuten Aufschwung, stärke ihr Selbstbewusstsein und mache ihnen Mut, an ihrem Hauptziel, einem bezahlten Job, weiterzuarbeiten.

Inzwischen gibt es im Kanton Zürich fünf Lernstuben. Sie alle bieten Kurse in Lesen, Schreiben und Rechnen sowie im Umgang mit dem Computer und dem Smartphone an. Zusätzlich werden jährlich neun bis zwölf Workshops durchgeführt, deren Themen auf die Bedürfnisse der Besuchenden abgestimmt sind: Wie bewerbe ich mich mit dem Smartphone oder wie bekomme ich die Finanzen in den Griff? Jede Lernstube verfügt zudem über eine Bewerbungswerkstatt. Hier werden die Besuchenden unterstützt, ihr Bewerbungsdossier zusammenzustellen – Lebensläufe zu schreiben, Zeugnisse einzuscannen oder eine Bewerbung zu verfassen. Auch lernen sie, wie sie sich im Bewerbungsprozess verhalten sollen. «In der Bewerbungswerkstatt möchten wir die Besuchenden befähigen, im Bewerbungsprozess möglichst selbständig zu werden», sagt Mirjam Brotz. Die Besuchenden erlernen zudem Strategien, wie sie auf Umwegen zu einem Job kommen. «Die Mehrheit hat keinen gradlinigen Lebenslauf. Im Gegenteil: Er weist Lücken und Unterbrüche auf oder zeigt eine fehlende oder nicht abgeschlossene Ausbildung. Für viele ist es schwierig, auf direktem Weg einen Job zu finden», so Mirjam Brotz.

Das gilt auch für Matthew, der in Wirklichkeit anders heisst. Er kommt seit einem halben Jahr wöchentlich in die Bewerbungswerkstatt. Der heute 23-Jährige hat eine Informatiklehre in einer geschützten Ausbildungsstätte abgeschlossen. Aber irgendwann nach der Lehre sei ihm das Interesse an der Informatik abhandengekommen – und dann immer mehr auch das Wissen. Er landete beim RAV, konnte sich aber nicht neu orientieren, wurde ausgesteuert und lebt nun seit vier Jahren arbeitslos bei den Eltern, wo er für sein Zimmer bezahlen muss. Sein Vater habe ihn auf das Angebot der Lernstube aufmerksam gemacht. «Mein Ziel ist es, einen Job zu finden und Geld zu verdienen, auch wenn das mit dem langen Unterbruch nach der Lehre nicht einfach sein wird», sagt Matthew; auf Anraten der Lernstuben-Animation besucht er auch die Laufbahnberatung.

Mirjam Brotz erarbeitet nun Zwischenschritte mit Matthew, die ihm helfen sollen, in den Arbeitsmarkt einzusteigen. Solche Schritte können spezielle Einsatzprogramme sein oder Freiwilligenarbeit. «Wer sich als Arbeitsloser freiwillig engagiert, gewinnt Erfahrungen, bekommt eine gewisse Tagesstruktur, muss sich in ein Arbeitsteam integrieren und kann die Lücke im Lebenslauf verkleinern», sagt Mirjam Brotz. Ihr sei bewusst, dass Freiwilligenarbeit kein Einkommen bringe: Aber sie gebe den Leuten Aufschwung, stärke ihr Selbstbewusstsein und mache ihnen Mut, an ihrem Hauptziel, einem bezahlten Job, weiterzuarbeiten. «Man sieht beinahe körperlich, dass sie aufrechter gehen», so Mirjam Brotz. Matthew hat kürzlich zum ersten Mal die Zusage eines Altersheims erhalten, während zwei bis drei Stunden täglich Freiwilligenarbeit zu leisten.

Gründe für den Erfolg der Lernstuben

Zusätzlich zum Lernstubenbesuch können sich Betroffene selbständig weiterbilden. Dazu wurde das digitale Lerninstrument eLounge kreiert.

Wer eine normale Weiterbildung besucht, braucht nicht nur Geld, sondern muss Zeit haben, in den Kurs zu gehen und zu lernen. Oft sind diese Bedingungen nicht erfüllt: «Die meisten unserer Besuchenden leben in einer so angespannten Situation, dass sie selten den Kopf frei, regelmässig Zeit oder genug Geld haben, um eine öffentliche Weiterbildung zu besuchen», sagt Mirjam Brotz. Denn viele befinden sich in einem prekären Arbeitsverhältnis: Arbeit auf Abruf, im Stundenlohn, Schichtarbeit, viel Arbeit für sehr wenig Lohn. Erschwerend sind zudem die Hürden bei der Anmeldung oder das Kursniveau. In den Lernstuben fallen diese Hürden weg. Mirjam Brotz: «Sie sind kostenlos und unverbindlich. Jede Person kann kommen und gehen, wie es ihr gefällt. Gelernt wird individuell, wenn nötig mit Unterstützung, man hilft sich auch gegenseitig. Das ist ganz wichtig: Die Besuchenden treffen hier auf ihresgleichen, sie erleben, dass auch andere Menschen Schwierigkeiten haben.»

Gerade wegen der grossen Niederschwelligkeit ist die Lernstube Kloten immer sehr gut besucht, die Leute schätzen das Angebot, sind mit Freude und Motivation am Lernen, erzählt Mirjam Brotz. Das merke sie unter anderem daran, dass sie die Teilnehmenden am Ende eines Kurses «kaum aus dem Raum kriege». Sie ist überzeugt: «Viele finden in den Lernstuben den Wiedereinstieg ins Lernen». Das Geheimnis für diesen Erfolg? «In kleinen Schritten vorwärts gehen, den Menschen immer wieder aufzeigen, wie gross ihre Fortschritte sind.» So wie der eingangs erwähnte Mann, der noch nie an einem Computer gearbeitet hatte: Nach ein paar Lernstubenbesuchen kann er nun Mails schreiben, Anhänge erstellen und Briefe drucken. Zusätzlich zum Lernstubenbesuch können sich Betroffene selbständig weiterbilden. Dazu wurde das digitale Lerninstrument eLounge kreiert. Es enthält eine Vielfalt an Themen, Lernfeldern, Übungen und Lernspielen.

Weitere Faktoren, die die Lernstuben erfolgreich machen, sind laut Mirjam Brotz die individualisierte Begleitung und die Hilfe zur Selbsthilfe. «Wir arbeiten ressourcenorientiert. Wir zeigen den Menschen, was sie tun können, damit sie nicht in ihrer Hilflosigkeit stecken bleiben.» Die Leute lernen, dass sie aktiv etwas verändern können. «Das steigert ihr Selbstvertrauen; das ist enorm wichtig, um motiviert weiterzulernen oder einen Job zu suchen», sagt Mirjam Brotz.

Die Lernstuben ermöglichen allen Menschen den Zugang zur Bildung, unabhängig vom Alter, Bildungshintergrund oder von der Arbeitssituation. Genau dieses Vorgehen stelle sie und ihr Team, das aus drei Festangestellten und zwei bis drei freiwilligen Helferinnen besteht, vor eine grosse Aufgabe, erklärt Mirjam Brotz: «Die Heterogenität der Besuchenden, ihre Anliegen und Hintergründe fordern uns heraus. Aber sie sind auch eine Ressource, denn oft unterstützen sich die Betroffenen gegenseitig. Viele macht es stolz, wenn sie statt Hilfeempfänger Experten in einer Sache sind.»

Organisation und Zusammenarbeit auf allen Ebenen

Die Heterogenität der Besuchenden sind auch eine Ressource, denn oft unterstützen sich die Betroffenen gegenseitig. Viele macht es stolz, wenn sie statt Hilfeempfänger Experten in einer Sache sind.

Neben ihrer täglichen Arbeit hat Mirjam Brotz die Aufgabe, das Angebot der Lernstube bei der Zielgruppe bekannt zu machen. In diese Herausforderung teilen sich alle Lernstuben-Animationen mit den Projektverantwortlichen der Bildungsdirektion. Während die Lernstuben-Animation eher lokal für die Bekanntmachung des Angebots zuständig ist, initiieren die Projektverantwortlichen grössere Kampagnen wie Fernsehspots, Videoclips oder Plakataktionen und nutzen Veranstaltungen wie den Weltalphabetisierungstag im September. Eine ganz wichtige Rolle spielen Vermittlerpersonen und Institutionen, die mit Menschen aus der Zielgruppe in Kontakt kommen oder mit ihnen arbeiten, so Brigitta Aschwanden. Dazu gehören Sozialdienste, RAV, Verantwortliche von Kirchgemeinden, aber auch Betreiber von Orten wie das Kafi Klick für Armutsbetroffene. Neu gebe es zudem sogenannte Botschaftergruppen: Ehemalige Kursteilnehmende oder Personen, die vom Thema betroffen sind.

Lernstuben dürfen nur von Trägern eröffnet werden, die bereits mit betroffenen Erwachsenen in Kontakt sind und die Verhältnisse vor Ort kennen, sozialtätige Vereine oder Stiftungen etwa. Ein Leitfaden nennt weitere Bedingungen, die eine Trägerschaft erfüllen muss. Dazu gehört, dass die Lernstuben zu 25 Prozent von der Trägerschaft und zu 75 Prozent vom Kanton finanziert werden. «Die Trägerschaften sind es auch, die die Mitarbeitenden der Lernstuben-Animation anstellen; grundlegend ist aber ein Stellenprofil des Kantons. «Wir geben einen Richtwert von 50 Stellenprozent vor und verlangen, dass die Lernstuben-Animationen mindestens eine Kursleiter-Ausbildung in der Erwachsenenbildung (SVEB 1) und eine soziale Ausbildung oder Erfahrung besitzt», sagt Brigitta Aschwanden. Zudem muss sich die Lernstuben-Animation in ganz unterschiedlichen Themen weiterbilden – Fachdidaktik etwa, Schuldenberatung, Bewerbungscoaching, digitale Kompetenzen oder die Bedienung von Apps, die für die Lernstubenbesuchenden nützlich sein können.

Die Projektleiterin des Programms Grundkompetenzen, Brigitta Aschwanden, zieht nach zweijähriger Laufzeit des Projekts eine positive Bilanz. Sie erinnert jedoch daran, dass alle Lernstuben während der Pandemie eröffnet wurden und entsprechend schwierig starteten. «Unser Ziel ist es, bis 2024 zehn bis zwölf Lernstuben zu eröffnen.» Geplant sei zudem eine Evaluation des Angebots; sie soll dem Kantonsrat gute Gründe liefern, das Projekt auch in der nächsten Förderperiode von 2025 bis 2028 gutzuheissen.

Zitiervorschlag

Rupp, M. (2022). Der Weg zurück ins Land des Lernens. Transfer. Berufsbildung in Forschung und Praxis 7(3).

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