Berufsbildung in Forschung und Praxis
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Anerkennung von Bildungsleistungen

Ein alternativer Weg mit Potenzial

In der Schweiz haben rund 370’000 erwerbstätige Personen keinen nachobligatorischen Abschluss – eine grosse Gruppe, die sich potenziell ihre erworbenen Kompetenzen über ein Anerkennungsverfahren bestätigen lassen könnte. Tatsächlich erlangen aber nur rund 5’600 Personen pro Jahr via Anerkennungsverfahren einen Abschluss der beruflichen Grundbildung. Die vorliegende Studie der Professur für Bildungssysteme der ETH Zürich zeigt, wie diese Quote im internationalen Vergleich einzuordnen ist. Und sie macht deutlich, dass die meisten dieser Verfahren dem Ziel der Dispensation dienen, während sogenannte Teil-/Vollzertifizierungen wenig verbreitet sind. Die Gründe dafür zeigen sich anhand von diversen Hindernissen, wie Informationsmangel, komplexe Verfahren, finanzielle Hindernisse und Koordinationsprobleme bei den Verbundpartnern.


Verfahren zur Anerkennung von Bildungsleistungen erlauben es, diese vielfältig erworbenen Kompetenzen an formale Abschlüsse anerkennen zu lassen.

Bald ausgelernt? Wohl eher nicht! In einer Zeit des rasanten Wandels auf dem Arbeitsmarkt – geprägt von Digitalisierung, Fachkräftemangel und beruflicher Mobilität – werden Soft Skills wie Anpassungsfähigkeit, Flexibilität und Lernbereitschaft immer wichtiger. Menschen stehen vor der Herausforderung, ihre Fähigkeiten kontinuierlich auszubauen und sich an diesen Wandel anzupassen. Dabei füllen sie ihren Rucksack täglich mit neuen Kompetenzen, die sie informell oder in Weiterbildungskursen erworben haben.

Verfahren zur Anerkennung von Bildungsleistungen erlauben es, diese vielfältig erworbenen Kompetenzen an formale Abschlüsse anerkennen zu lassen. Damit eröffnen Anerkennungsverfahren einen vielversprechenden Weg zum Erlangen von formalen Abschlüssen. Seit 2014 fördert die Schweizer Bildungspolitik deshalb aktiv Verfahren zur Anerkennung von Bildungsleistungen. Doch Studien zeigen, dass Anerkennungsverfahren trotz dieser Bemühungen immer noch relativ wenig verbreitet sind (Maurer et al., 2019; Salzmann et al., 2020).

An der Professur für Bildungssysteme der ETH Zürich haben wir uns im Auftrag des Staatssekretariats für Bildung, Forschung und Innovation (SBFI) mit den Herausforderungen von Verfahren zur Anerkennung von Bildungsleistungen auseinandergesetzt und das Potenzial solcher Verfahren in der beruflichen Grundbildung genauer beleuchtet. In der Schweiz sind die Wege zur Erlangung eines eidgenössischen Fähigkeitszeugnisses (EFZ) oder eines eidgenössischen Berufsattests (EBA) vielfältig. Unsere Analysen zu den Anerkennungsverfahren beziehen sämtliche Wege ein, die neben einer üblichen regulären beruflichen Grundbildung existieren, um ein eidgenössisches Fähigkeitszeugnis (EFZ) oder ein eidgenössisches Berufsattest (EBA) zu erwerben. Um Erkenntnisse für eine effektive Gestaltung von Anerkennungsverfahren zu gewinnen, haben wir nicht nur die Situation in der Schweiz untersucht, sondern auch einen Blick nach Europa geworfen.

Unsere Studie basiert einerseits auf einer Literaturrecherche zur Situation in Europa und andererseits auf einer strukturierten Online-Befragung und einem Policy Workshop mit Vertreterinnen und Vertretern von Bund, Kantonen und Organisationen der Arbeitswelt in der Schweiz. Diese Kombination erlaubt eine ganzheitliche Analyse der Herausforderungen und Potenziale von Anerkennungsverfahren (Renold et al., 2023).

Die Anerkennung von Bildungsleistungen ist wichtig und hat Potenzial in der Schweiz

Damit ist das Potenzial zur Anerkennung von Bildungsleistungen in der beruflichen Grundbildung in der Schweiz gross.

Die Anforderungen auf dem Arbeitsmarkt verändern sich in rasend schnellem Tempo. Insbesondere für Personen ohne Abschluss auf der Sekundarstufe II (z.B. Berufsabschluss, Gymnasium oder Fachmittelschule) stellt dies eine Herausforderung dar, da für immer weniger Stellen ein obligatorischer Schulabschluss ausreichend ist. Zudem stellen diese Personen eine Risikogruppe dar, weil ihre Erwerbslosenquote deutlich höher und ihre Weiterbildungsquote deutlich tiefer ist als bei Personen, die über einen höheren Abschluss verfügen. In der Schweiz haben rund 370’000 erwerbstätige Personen keinen Abschluss auf der Sekundarstufe II (Rohdaten Bundesamt für Statistik, 2022). Damit ist das Potenzial zur Anerkennung von Bildungsleistungen in der beruflichen Grundbildung in der Schweiz gross. Unsere Analysen zeigen, dass dieses Potenzial besonders gross ist bei den 40-55-Jährigen, bei Ausländerinnen und Ausländern sowie bei Personen, die in den Wirtschaftsabschnitten «Grundstück- und Wohnungswesen/Dienstleistungen» und «Industrie» arbeiten.

Anerkennungsverfahren sind in der Schweiz vergleichsweise verbreitet

Die Schweiz steht im Vergleich mit anderen europäischen Ländern gut da, was die Verbreitung und Nutzung von Anerkennungsverfahren betrifft. Im Jahr 2020 haben rund 8 Prozent aller Absolventinnen und Absolventen ihren Berufsabschluss – also sämtliche EBA- und EFZ-Abschlüsse – im Rahmen eines Anerkennungsverfahrens erlangt (Rohdaten Bundesamt für Statistik). Das sind insgesamt 5’599 Abschlüsse. Unsere Literaturrecherche zeigt, dass die Schweiz damit verhältnismässig gut dasteht: Nur in Österreich, Dänemark, Deutschland und Finnland kommen Berufsabschlüsse via Anerkennungsverfahren ähnlich häufig vor. Allerdings haben die EU-Staaten in den letzten Jahren viel unternommen, um Anerkennungsverfahren zu fördern, und wir beobachten einen steigenden Trend im Angebot und in der Nutzung von Anerkennungsverfahren.

Eine Typologie zur Charakterisierung von Anerkennungsverfahren

Die Landschaft der Anerkennungsverfahren in Europa ist sehr heterogen ausgestaltet. Dabei existieren in der beruflichen Grundbildung viele verschiedene Verfahren mit unterschiedlichen Zielen und Methoden. Damit wir diese Komplexität herunterbrechen können, haben wir eine Typologie entwickelt. Die Typologie hilft uns, die Situation der Anerkennungsverfahren in der Schweiz besser in den internationalen Kontext einzuordnen. Unsere Literaturrecherche zu Anerkennungsverfahren in Europa zeigt, dass zwei Dimensionen relevant sind: das primäre Ziel der Verfahren und die primäre Evaluationsmethode der Verfahren. Damit identifizieren wir vier Typen von Anerkennungsverfahren in der beruflichen Grundbildung, die in Abbildung 1 dargestellt sind.

Beim primären Ziel der Verfahren schauen wir uns an, ob das Verfahren zu einer Dispensation oder zu einer Teil-/Vollzertifizierung führt. Mit einer Dispensation meinen wir Verfahren, bei welchen entweder Unterrichts- oder Prüfungsteile der Ausbildung erlassen werden. Mit einer Teil-/Vollzertifizierung bezeichnen wir Verfahren mit dem Endziel, dass die Kandidierenden ein Zertifikat oder zumindest ein Teilzertifikat erhalten. Dieser Weg findet bis zum Erhalt des Zertifikats komplett neben dem regulären Weg zum Berufsabschluss statt. Beide Verfahren führen zu einem Zertifikat, das gleichwertig ist zu einem Zertifikat, welches über den regulären Weg erworben wurde.

Mit der primären Evaluationsmethode charakterisieren wir die Art und Weise, wie die Kompetenzen überprüft werden. Auch hier definieren wir zwei grundlegende Kategorien: die Methode mit Examen und die Methode ohne Examen. Bei der Methode mit Examen schreiben die Kandidierenden zum Beispiel einen schriftlichen Test oder werden durch eine Arbeitsdemonstration geprüft. Bei der Methode ohne Examen reichen die Kandidierenden ein Portfolio ein, wobei ihre Kompetenzen beispielsweise über Dokumentationen oder Lebensläufe überprüft werden.

Wenn wir das primäre Ziel und die Evaluationsmethode miteinander kreuzen, resultieren die folgenden vier Typen von Anerkennungsverfahren:

  • Examensbasierte Dispensation: z.B. schriftlicher Test, welcher zu einem Erlass von Unterrichtsteilen führt
  • Examensbasierte Teil-/Vollzertifizierung: z.B. schriftlicher Test, welcher direkt zu einem Zertifikat führt
  • Gleichwertigkeitsprüfungsbasierte Dispensation: z.B. Einreichen eines Portfolios, welches zu einem Erlass von Unterrichtsteilen führt
  • Gleichwertigkeitsprüfungsbasierte Teil-/Vollzertifizierung: z.B. Einreichen eines Portfolios, welches direkt zu einem Zertifikat führt

Abbildung 1: Typologie von Anerkennungsverfahren und ihr Vorkommen in Europa
Bemerkungen: Examensbasierte Dispensation: Estland, Irland. Examensbasiert Teil-/Vollzertifizierung: Belgien, Bulgarien, Finnland, Italien, Lettland, Litauen, Malta, Polen, Portugal, Slowenien. Gleichwertigkeitsprüfungsbasierte Teil-/Vollzertifizierung: Frankreich, Luxemburg. Gleichwertigkeitsprüfungsbasierte Dispensation: Deutschland, Österreich, Dänemark und Schweiz. Es wurden nur EU-Staaten typologisiert, bei welchen Anerkennungsverfahren existieren und die Literaturrecherche eine Aussage dazu erlaubte.

Starke Ausrichtung auf Dispensationsverfahren in der Schweiz

Die Schweiz gehört dem Typ «gleichwertigkeitsprüfungsbasierte Dispensation» an. Damit dominieren bei der Evaluationsmethode die Überprüfung von Kompetenzen ohne Examen und die Dispensation als primäres Ziel der Verfahren.

Die Schweiz gehört dem Typ «gleichwertigkeitsprüfungsbasierte Dispensation» an. Damit dominieren bei der Evaluationsmethode die Überprüfung von Kompetenzen ohne Examen und die Dispensation als primäres Ziel der Verfahren. Diese Beobachtung bestätigt sich durch die Berufsabschlusszahlen in der Schweiz: Von den insgesamt 5’599 Absolventinnen und Absolventen, die ihren Berufsabschluss via Anerkennungsverfahren erworben haben, haben 87 Prozent ein Dispensations-Verfahren durchlaufen. Das bedeutet, diese Personen konnten durch die Anerkennung ihrer erworbenen Kompetenzen entweder die Ausbildungsdauer verkürzen, Teile der Ausbildung auslassen oder sogar direkt an die Abschlussprüfung gehen. Ein wesentlich geringerer Anteil von 13 Prozent hat ein Verfahren mit dem Ziel zur Teil-/Vollzertifizierung absolviert. Bei diesem Verfahren erstellen die Kandidierenden ein Dossier und weisen darin ihre erworbenen Kompetenzen nach, die es für einen erfolgreichen Berufsabschluss benötigt. Expertinnen und Experten prüfen dieses Dossier und beurteilen im Anschluss, ob und wo bei den Kandidierenden noch Lücken bestehen. Nach einem erfolgreichen Füllen dieser Lücken, zum Beispiel mit zusätzlichen Kursen, erhalten die Kandidierenden ihr Abschlusszertifikat. Dieses Zertifikat ist gleichwertig zu einem Abschluss über den regulären Weg in der Form einer zwei- bis vierjährigen Berufsausbildung.

In Europa gehört die Schweiz nicht zum Normalfall: Während in zehn Ländern der Typ «examensbasierte Teil-/Vollzertifizierung» existiert, dominiert die «gleichwertigkeitsprüfungsbasierte Dispensation» nur noch in den Ländern Deutschland, Dänemark und Österreich.

Verbundpartner wollen Verfahren fördern, haben aber Probleme bei der Koordination

Im Vergleich zu anderen europäischen Ländern werden Anerkennungsverfahren in der Schweiz häufig genutzt. Dennoch zeigt die hohe Anzahl an erwerbstätigen Personen ohne Abschluss auf der Sekundarstufe II, dass Potenzial für eine Ausweitung von Anerkennungsverfahren besteht. Deshalb haben wir bei den Vertreterinnen und Vertretern der Verbundpartner der Berufsbildung – also Bund, kantonalen Berufsbildungsämtern und Organisationen der Arbeitswelt – eine Online-Befragung durchgeführt, um herauszufinden, welches die grössten Herausforderungen bei der Ausweitung von Anerkennungsverfahren sind und mit welchen Massnahmen diese bewältigt werden könnten. Die Ergebnisse wurden zudem in einem Policy Workshop mit ausgewählten Vertreterinnen und Vertretern dieser Organisationen diskutiert.

Unsere Ergebnisse zeigen, dass die Verbundpartner eine Förderung von Anerkennungsverfahren insgesamt befürworten. Allerdings erschweren diverse Hindernisse eine Ausweitung von Anerkennungsverfahren. Diese bestehen insbesondere darin, dass die Zielgruppe ungenügend über die Möglichkeiten von Anerkennungsverfahren informiert ist. Zudem sind die Verfahren teils sehr kompliziert und finanziell sowie zeitlich aufwändig für die Zielgruppe. Oft mangelt es der Zielgruppe auch an den notwendigen Kompetenzen, um die Verfahren zu durchlaufen. Dabei haben wir mangelnde Sprachkompetenzen als das grösste Hindernis identifiziert. Zur Überwindung dieser Hindernisse könnte die Schweiz auch  vom Ausland lernen: Beispielsweise kennt Frankreich eine Informationspflicht, wobei Betriebe ihre Angestellten über Anerkennungsverfahren informieren müssen. In Österreich – wo ebenfalls die Verfahren mit dem Ziel der Dispensation vorherrschen – ist der Prozess sehr einfach gestaltet, wobei die Kandidierenden ein einfaches Formular zur Darlegung ihrer Berufserfahrung einreichen.

Zuletzt bestehen Hindernisse bei der Koordination der Verbundpartner. Diese haben teils unterschiedliche Vorstellungen davon, wer die Kosten und die Moderation der Verfahren übernehmen sollten. Für eine Ausweitung der Anerkennungsverfahren wäre deshalb eine klarere Definition der Prozesse sowie eine eindeutige Abgrenzung der Rollen der Verbundpartnern von zentraler Bedeutung. Angesichts des hohen Potenzials zur Nachholbildung, welches in der Schweiz vorhanden ist, wäre es wünschenswert, wenn die Verbundpartner hier Lösungen zur Überwindung der Barrieren finden könnten.

Zusammenfassung

Unsere Erkenntnisse verdeutlichen, dass die Anerkennung von Bildungsleistungen nicht nur ein Instrument zur individuellen Weiterentwicklung ist, sondern in der Schweiz auch einen zentralen Beitrag zur Bekämpfung des Fachkräftemangels leisten kann.

Unsere Erkenntnisse verdeutlichen, dass die Anerkennung von Bildungsleistungen nicht nur ein Instrument zur individuellen Weiterentwicklung ist, sondern in der Schweiz auch einen zentralen Beitrag zur Bekämpfung des Fachkräftemangels leisten kann. In einer Ära des rasanten Wandels auf dem Arbeitsmarkt bietet die Anerkennung von Bildungsleistungen einen vielversprechenden Weg zum Erlangen von formalen Bildungsabschlüssen – insbesondere für erwerbstätige Personen ohne Abschluss auf der Sekundarstufe II. Zudem ist die Anerkennung von Bildungsleistungen wichtig für diese Personen, da ein Berufsabschluss vor Arbeitslosigkeit schützt. Im internationalen Vergleich steht die Schweiz bereits gut da: mit rund 8 Prozent der jährlichen Berufsabschlüsse kommen Anerkennungsverfahren nur noch in Deutschland, Österreich, Dänemark, und Finnland ähnlich häufig vor. Dennoch zeigt der Anteil von erwerbstätigen Personen ohne nachobligatorischen Schulabschluss, dass in der Schweiz noch Potenzial besteht. Zudem dominieren in der Schweiz klar die Verfahren mit dem Ziel der Dispensation, während die sogenannten Teil-/Vollzertifizierungen wenig verbreitet sind. Die Gründe dafür zeigen sich anhand von diversen Hindernissen, wie Informationsmangel, komplexe Verfahren, finanzielle Hindernisse und Koordinationsprobleme bei den Verbundpartnern. Dabei könnte die Schweiz vom Ausland lernen: In Frankreich besteht beispielsweise eine Informationspflicht, wobei Betriebe ihre Angestellten über Anerkennungsverfahren informieren müssen. In Österreich ist der Prozess sehr einfach gestaltet, indem die Kandidierenden ein einfaches Formular mit Darlegung ihrer Berufserfahrung einreichen. Um die Anerkennung von Bildungsleistungen in der Schweiz zu fördern, wird aber auch die Klärung der Rollen der Verbundpartner und ihre Koordination von zentraler Bedeutung sein.

Literatur

Zitiervorschlag

Renold, U., Bolli, T., Dändliker, L., & Rageth, L. (2024). Ein alternativer Weg mit Potenzial. Transfer. Berufsbildung in Forschung und Praxis 9(5).

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