Berufsbildung in Forschung und Praxis
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Fondation ForPro

Ein Ort für die Genfer Berufsbildung

ForPro ist eines der ambitioniersten Projekte zur Berufsbildung in der Westschweiz seit vielen Jahren. Ziel der gleichnamigen Stiftung ist die Förderung, Unterstützung und Aufwertung der Berufsbildung in Genf. Sie belegt zu diesem Zweck ein 22’000 Quadratmeter grosses Gebäude und investiert in die Beratung und Ausbildung von Berufslernenden. Diese werden vor dem Eintritt in die Lehre, während der Ausbildung und danach begleitet.


Die Berufsbildung ist ein Eckpfeiler des schweizerischen Bildungssystems. Sie hat viele Vorzüge. Sie eröffnet jungen Menschen den Weg in die Arbeitswelt und Zugänge in die Hochschulbildung. Eine Berufsbildung ist ein Garant für Autonomie, gute Beschäftigungsfähigkeit und die Anpassung an die Bedürfnisse der Wirtschaft und des Arbeitsmarkts.

Während dieser Bildungsweg in der Schweiz etwa zwei Drittel der Jugendlichen anspricht, sind es im Kanton Genf nur ein Drittel. «Alle Kantone ausser Genf haben dieses System weitgehend übernommen. Wir aber sind der Kanton, in dem die Unternehmen am wenigsten Lehrstellen anbieten. Wir müssen das Ansehen der dualen Ausbildung erhöhen, die immer noch einen schlechten Ruf hat», betont François Abbé-Decarroux, Präsident von der ForPro und Generaldirektor der Fachhochschule Westschweiz HES-SO Genève. Die Bevorzugung der Allgemeinbildung (Gymnasium und Fachmittelschule) wirkt sich in Genf negativ aus: Schulversagen, Mangel an Fachkräften in bestimmten Sektoren, steuerliche Belastungen sind die Folge.

ForPro ist eine privatrechtliche Stiftung, die im Oktober 2021 mit dem Ziel gegründet wurde, diese Verhältnisse umzukehren. Es werden neue Massnahmen und Herangehensweisen entwickelt und öffentlichen wie privaten Akteuren zur Förderung der Berufsbildung zur Verfügung gestellt. Die Aktivitäten von ForPro werden ab Sommer 2024 in enger Zusammenarbeit mit den bestehenden Interessengruppen, dem Staat und allen Partnern der Berufsbildung umgesetzt.

ForPro, ein Ort an dem die Berufsbildung aufgewertet und gefördert wird

Die Stiftung ForPro stellt im Espace Tourbillon im Herzen des Genfer Gewerbegebiets Plan-les-Ouates (zukünftigen) Berufslernenden ein Gebäude zur Verfügung, dessen Räume tagsüber, abends und am Wochenende geöffnet sind.

Die Stiftung ForPro stellt im Espace Tourbillon im Herzen des Genfer Gewerbegebiets Plan-les-Ouates (ZIPLO) mit seinen fast 600 Unternehmen und 15.000 Arbeitsplätzen (zukünftigen) Berufslernenden ein Gebäude zur Verfügung, dessen Räume tagsüber, abends und am Wochenende geöffnet sind. Hier können die Lernenden soziale Kontakte knüpfen, neue Fähigkeiten entwickeln und sich verpflegen. Die Räume sind aber auch für Start-ups offen, die in einer separaten Etage untergebracht werden. ForPro versteht sich als ein Ort der Begegnung, der Orientierung, des Experimentierens, des Lernens und des gemeinsamen Tuns. Das Gebäude wird drei «Labs» beherbergen:

  • Das LearningLab wird fast 100 Lernende nach Bedarf über eine längere Zeit unterstützen – von der Wahl ihrer beruflichen Ausrichtung bis zum Abschluss ihrer Ausbildung und ihrem Eintritt in den Arbeitsmarkt. Es werden angeleitete Aktivitäten und Dienstleistungen angeboten, die ihnen Möglichkeiten zum Experimentieren und Üben bieten. Das LearningLab wird auch allen Lernenden zur Verfügung stehen, die schulische oder berufliche Unterstützung benötigen oder neue Fähigkeiten erwerben möchten.[1] Eingerichtet wird auch eine Anlaufstelle für ausbildende Unternehmen, um die Einstellung und Betreuung von Lernenden zu erleichtern.
  • Im MakerLab können Prototypen entwickelt und Objekte hergestellt werden. Das MakerLab ist ein Ort, wo Kreativität und das Tun im Mittelpunkt stehen und an dem man experimentieren kann, ohne dass gleich alles gelingen muss. Der Raum ist so bemessen, dass etwa 100 Projekte parallel laufen können; er wird auch mindestens einen Tag pro Woche für die Bevölkerung geöffnet sein.
  • Im FoodLab werden Lernende in der Gastronomie ausgebildet. An drei Orten kann die «Küche von morgen» kreiert und probiert werden. Das FoodLab wird die Menschen, die das Gebäude und die Umgebung nutzen, mit etwa 300 bis 400 Mahlzeiten pro Tag versorgen.

Zu diesen «Labs» kommt das «Unternehmenshotel» hinzu, ein eigenes Stockwerk für Unternehmen des Sekundärsektors, das ein realitätsnaher Experimentierort für junge Menschen in der Berufsorientierung darstellen soll. In diesem Unternehmenshotel werden junge Absolventinnen und Absolventen mit Unternehmergeist Platz finden; sie können sich im Hotel einquartieren und werden beim Start ihres Projekts unterstützt.

Schliesslich wird die renommierte Genfer Uhrmacherschule École d’horlogerie de Genève im Sommer 2024 ihr neues Quartier mit 8’500 Quadratmetern in der ForPro beziehen; hier werden 300 Lernende über eine Infrastruktur verfügen, die ihren Ansprüchen gerecht wird. In dieser idealen Lage wird sich die Ausbildungsstätte auf neue Berufe ausrichten, vielfältige Ausbildungen anbieten und von der Nähe zur Uhrenindustrie profitieren.

Allen Angeboten sollen es jeder einzelnen Person ermöglichen, selbstständig die eigenen Bedürfnisse zu erkunden, sich bei den Entscheidungen an den persönlichen Vorlieben zu orientieren und – je nach Lerntempo – Wiederholungen zuzulassen.

Allen Angeboten sollen es jeder einzelnen Person ermöglichen, selbstständig die eigenen Bedürfnisse zu erkunden, sich bei den Entscheidungen an den persönlichen Vorlieben zu orientieren und – je nach Lerntempo – Wiederholungen zuzulassen. Ziel ist es, alle Lernenden zu befähigen, sich ihrer individuellen Kompetenzen bewusst zu werden und ihre Fortschritte wahrzunehmen. Wichtiger als das Ergebnis ist der Weg, den die Lernenden beschreiten.

Die ForPro möchte alle an der Berufsbildung beteiligten Personen erreichen: zukünftige Lernende und ihre Eltern, Lernende in Unternehmen während der Dauer ihrer beruflichen Grundbildung, Personen mit einem Abschluss wie dem EBA, dem EFZ oder der Berufsmaturität. Die Stiftung richtet sich aber auch an Entscheidungsträger wie Lehrpersonen, Laufbahnberaterinnen, Forschende, Politiker, die Sozialpartner, Unternehmen usw. Für die berufliche Bildung gibt es keinen Campus wie für die akademische Bildung. Unsere Idee ist es, eine solche Einrichtung zu schaffen, die es ermöglicht, an einem Ort Antworten auf Bedürfnisse entlang der gesamten Bildungslaufbahn zu finden, sei es in Form von Orientierung, Unterstützung, der Möglichkeit, Kompetenzen ausserhalb der Lehre zu entwickeln, oder auch in Form einer Begleitung bei der Umsetzung von Ideen bis hin zu einer etwaigen Unternehmensgründung. Mithilfe eines solchen Ortes möchten wir die Lehre aufwerten und ihr Image in der Bevölkerung verbessern.

Das Beispiel der 16-jährigen Amel

Amel ist 16 Jahre alt, sie hat vor einigen Monaten ihre Pflichtschulzeit beendet. Sie weiss um die Bedeutung einer Ausbildung mit einem Abschluss und hat einige Ideen. Der Bereich Zeichnen interessiert sie, aber sie hat keine Ausbildung gefunden, die sie zufrieden stellt. Sie möchte eine duale Berufsbildung machen, ist jedoch unschlüssig. Jetzt ist Amel bei Vorpro. Hier kann sie einen massgeschneiderten «Parcours» zusammenstellen, einen Ablauf aus Aktivitäten und Praktika, die ihr Wahlmöglichkeiten und Alternativen aufzeigen; danach erarbeitet sie, wie das, wofür sie sich entschieden hat, ermöglicht und umgesetzt werden kann.

Amel wird von einem Mentor oder einer Mentorin begleitet. Nach Absolvierung jedes vereinbarten Schrittes werden sie gemeinsam Bilanz ziehen und entscheiden, wie es weitergehen soll. Anhand des individuellen Parcours werden ihre Fähigkeiten aufgewertet. Und im Laufe der Zeit, wenn sich ihre berufliche Ausrichtung herauskristallisiert, können die Kompetenzen identifiziert werden, die es zu stärken gilt. Amel werden dann Ausbildungsmodule angeboten mit dem Ziel, eine Lehrstelle zu finden, die sie bewältigen kann. Die Stiftung wird während ihrer Ausbildung auch weiterhin für sie da sein, um sie zu unterstützen.

Zu den vorgeschlagenen Aktivitäten kann etwa die Herstellung eines Objekts im MakerLab gehören; hier lernt Amel die Handgriffe in einem Berufsfeld und die 3D-Modellierung kennen. Denkbar ist auch ein Theaterworkshop, um rund um die Kommunikation zu arbeiten. Oder die Erstellung von Grafiken für die sozialen Netzwerke von ForPro, ergänzt durch ein Praktikum in einem Unternehmen, um bei der Wahl einer bestimmten Berufsrichtung Sicherheit zu gewinnen. Bei Bedarf wird schulische Unterstützung organisiert, damit es Amel gelingt, ihr Projekt zu verwirklichen. Auch Workshops zu Themen wie Grafiksoftware oder künstliche Intelligenz bieten ihr einen Vorteil bei der Bewerbung um einen Ausbildungsplatz.

Individuelle Betreuung, Selbstbestimmung und Eigenverantwortung

Die Aktivitäten, die bei der ForPro zum Einsatz kommen, sind vielfältig, sowohl in ihrer Form als auch in ihrem Inhalt. Sie entsprechen alle den folgenden sechs Prinzipien:

  • Die Bedürfnisse der jeweiligen Person stehen im Mittelpunkt. Ihre Wünsche, Fähigkeiten und Neigungen bestimmen das Angebot und den Weg, den sie in der Stiftung zurücklegen wird.
  • Die Zustimmung des Teilnehmers oder der Teilnehmerin aus freien Stücken für jede Bildungsmassnahme. Diese Bedingung gewährleistet die aktive Mitwirkung am individuellen Lernprozess.
  • Das Experimentieren steht im Mittelpunkt der Aktivitäten der Stiftung. Durch das «Tun» wird das Verständnis und die Entwicklung der Fähigkeiten ermöglicht.
  • Durch die Anpassung an das eigene individuelle Tempo und die Möglichkeit zu Wiederholungen zur Verbesserung kann jede Person ihren Weg zur Realisierung ihres Projekts finden.
  • Die Anerkennung des individuell zurückgelegten Weges ermöglicht es, die Leistungen bzw. das, was beim Einzelnen funktioniert hat, hervorzuheben, und begründet letztlich das Bewusstsein für die eigene Identität.
  • Das Ziel des LearningLab ist die Entwicklung der Autonomie jeder Person und insbesondere von Jugendlichen in der Berufsbildung oder knapp davor. In diesem Sinne ist der Weg wichtiger als das Ergebnis.

Ein partizipativer Prozess für eine Eröffnung in zwei Phasen

Seit dem Start der Stiftung im Oktober 2021 wurden rund 20 kollaborative Sitzungen mit 15 bis 100 Teilnehmerinnen und Teilnehmern rund um die Aufgaben der Stiftung abgehalten.

Seit dem Start der Stiftung im Oktober 2021 wurden rund 20 kollaborative Sitzungen mit 15 bis 100 Teilnehmerinnen und Teilnehmern rund um die Aufgaben der Stiftung abgehalten, um die Bedürfnisse der verschiedenen Akteure zu ermitteln. Diese Arbeitsrunden wurden von Fachleuten moderiert, anschliessend wurden Zielgruppen befragt. Die Ergebnisse bilden die Basis, um Bedürfnisse herauszuarbeiten, den Zielgruppen Gehör zu verschaffen und sie eigenverantwortlich und partnerschaftlich miteinzubeziehen. Auf dieser Grundlage wurden die Angebote festgelegt und die Räume entsprechend den Ergebnissen dieser Arbeitsrunden gestaltet.

Die erste Etappe wird im August 2023 abgeschlossen sein. Zunächst wird die Uhrmacherschule mit ihren 300 Lernenden einziehen. Die zweite Etappe ist für Ende des ersten Halbjahres 2024 geplant, wo dann die «Labs» und das Unternehmenshotel starten sollen.

[1] In welcher Weise die betriebliche und schulische berufliche Grundbildung mit dem LearningLab verbunden sein wird, ist noch offen. Es sind mehrere Ideen denkbar, zum Beispiel ein Mentoring (insbesondere an Samstagen) oder Arbeit mit Nachhilfe. Ziel ist es, Themen zu vertiefen oder die Grenzen des eigenen Berufs auszudehnen. So könnte jemand, der eine Mittelschule besucht, einen Kochkurs belegen. Oder ein Unternehmen erlaubt einer oder einem Lernenden, ForPro während der Arbeitszeit zu besuchen. Auch Workshops sollen angeboten werden, die transversale Kompetenzen fördern; zertifizierende Programme gibt es keine.
Zitiervorschlag

Mathey, J., & Antille, F. (2023). Ein Ort für die Genfer Berufsbildung. Transfer. Berufsbildung in Forschung und Praxis 8(3).

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