Berufsbildung in Forschung und Praxis
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Projekt Lernvolution von Swisscom und BBBaden

Lernen à la carte

In diesen Tagen startet einer der interessantesten Modellversuche der aktuellen Schweizer Berufsbildung. Er erlaubt 16 Lernenden in den Berufen Informatiker (Applikationsentwicklung) und Mediamatikerin, Inhalt, Zeitpunkt und Form ihrer schulischen Lernziele individuell auszuwählen – selbstverständlich innerhalb des vom Gesetz gegebenen Rahmens. Damit soll es viel besser als bisher möglich sein, die «theoretischen» Lerninhalte auf die Arbeit im Betrieb abzustimmen. Das Projekt mit dem Namen Lernvolution hat radikale Konsequenzen für die beteiligten Lehrpersonen: Statt Wissensvermittler werden sie zu Kompetenzcoaches, die die Lernenden beraten, unterstützen und beurteilen. Der Versuch wird getragen von Swisscom und der Berufsfachschule BBBaden (Baden) und soll letztlich nicht mehr kosten als der Unterricht heute.


«Mit diesem Projekt wird die Lücke zwischen Praxis und Theorie geschlossen werden», ist im Konzept zu lesen.

Es gibt in der Berufsbildung kaum ein so hartnäckiges Thema wie die Lernortkooperation. Es gehört zur DNA des dualen Systems, wo in Schule und Betrieb (und in den überbetrieblichen Kursen) gelernt wird. «In der Schule lerne ich nicht, was ich bei der Arbeit mache» – so oder ähnlich lautet die wohl älteste und vermutlich am meisten berechtigte Klage von Lernenden.

Swisscom: Innovative Ausbildungsmodelle

Wenn in diesen Tagen 16 Jugendliche an der Berufsfachschule BBBaden (Baden) ihre berufliche Grundbildung als Informatikerin EFZ (Fachrichtung Applikationsentwicklung) oder Mediamatikerin EFZ antreten, tun sie das auch ein wenig vor der mächtigen Kulisse dieses Themas. Denn die jungen Lernenden sind Teil des Modellversuchs Lernvolution, der schulisches und betriebliches Lernen einander näherbringen, ja zusammenführen soll. Von Kollaboration ist da die Rede statt nur von Kooperation – die Latte dieses Pilotprojekts liegt hoch. «Mit diesem Projekt wird die Lücke zwischen Praxis und Theorie geschlossen werden», ist im Konzept zu lesen.

Trägerin des Versuchs ist Swisscom, die rund 850 Lernende in acht Berufen (und ihren zweijährigen Entsprechungen) ausbildet. Damit zählt die Firma zu den grössten Lehrbetrieben in der Schweiz; die Bildungsabteilung zählt rund 35 Mitarbeitende. Steven Walsh, Projektleiter Lernvolution, sagt: «Die Ausbildung von Lernenden ist für Swisscom zentral. Der Fachkräftebedarf in den ICT-Bereichen steigt kontinuierlich an, der Arbeitsmarkt hingegen ist praktisch ausgetrocknet. Daher investieren wir in unsere zukünftigen Fachkräfte und bilden diese selbst aus.»

Das eindrückliche Mengengerüst erlaubt es dem Unternehmen nicht erst heute, bei der Gestaltung der beruflichen Grundbildung neue Wege zu beschreiten. Seit August 2004 betreibt Swisscom einen Online-Markplatz, auf dem die Lernenden zu ihren Kompetenzen und ihrem Entwicklungsbedarf passende Einsatzorte und Projekte auswählen. Dieses flexible Ausbildungsmodell ermöglicht es ihnen, ihren betrieblichen Ausbildungsweg im Rahmen der Vorgaben der Bildungspläne selbstgesteuert und entlang ihrer Bedürfnisse zu gestalten.[1] Zudem ist Swisscom Partner im Projekt «Flexibilisierung ICT-Ausbildung» des Mittelschul- und Berufsbildungsamtes des Kantons Bern.[2] Dieses bricht den im Bildungsplan vorgegebenen Ablauf von 31 schulischen Modulen (inkl. üK) für Informatik-Lernende auf. Basis bilden die wichtigsten rund zehn Geschäftsfelder der Berner Informatikbranche – Webentwicklung etwa, agile Softwareentwicklung, Datenbanken oder Automatisation –, die nach den Bedürfnissen der beteiligten Lehrbetriebe zeitlich variabel angeordnet werden. «Mit diesem System hoffen wir, das schulische Lernen besser auf die betrieblichen Bedürfnisse abzustimmen, als es mit den bestehenden Fachrichtungen Betriebsinformatik, Systemtechnik und Applikationsentwicklung möglich ist», sagte der damalige Projektleiter Reto Sollberger in einem Beitrag von Panorama.[3] Zudem haben die Lernenden die Möglichkeit, die Module entweder im Präsenzunterricht oder im selbst organisierten Lernen zu absolvieren. Eine Grundlage dieser Entscheidung bilden Lernstandserhebungen zu Beginn jedes Moduls.

Auch zusätzliche Lerninhalte

Jetzt können die Lernenden während ihrer gesamten vierjährigen Lehrzeit Inhalt (Was?), Zeitpunkt (Wann?) und Form (Wie?) ihres Lernens selber bestimmen.

Mit den neuen Projekt Lernvolution, das in diesen Tagen gestartet ist, gehen Swisscom und die Berufsfachschule BBB noch einen bedeutenden Schritt weiter. Nun haben die Lernenden nicht nur die Möglichkeit, sich beim Eintritt in die für einen von fünf Pfaden zu entscheiden, dem sie im weiteren Verlauf ihrer beruflichen Grundbildung folgen, wie dies in Bern der Fall ist. Vielmehr können sie während ihrer gesamten vierjährigen Lehrzeit Inhalt (Was?), Zeitpunkt (Wann?) und Form (Wie?) ihres Lernens selber bestimmen – und die Lerngegenstände bei Bedarf über die in den Bildungsverordnungen definierten Bereiche erweitern. Damit erhält das flexible Ausbildungsmodell von Swisscom (Marktplatz) eine logische Entsprechung auf Ebene Schule (und üK). Das Modell basiert auf vier Grundsätzen:

  • Flexibilisierte, personalisierte Kompetenzorientierung Die Lernende bestimmt ihren persönlichen Lernweg und wird dabei von den Kompetenzcoaches der Berufsfachschule und der Lernbegleiterin des Lehrbetriebs beraten. Dabei wird ihr Vorwissen ebenso berücksichtigt wie die Kompetenzen, die sie neben den Muss-Zielen noch erreichen will.
  • Engere Lernortkollaboration Durch die Selbstbestimmung im Bereich des schulischen Kompetenzaufbaus übernimmt die Lernende die Verantwortung für ihre Ausbildung in der ausserbetrieblichen Bildung. Durch die Zusammenarbeit der Kompetenzcoaches mit den Lernbegleitern entsteht eine echte Lernortkollaboration von Schule und Betrieb.
  • Notenausweis und Kompetenzportfolio Die zum Erreichen des angestrebten Berufsabschlusses notwendigen Handlungskompetenzen werden mittels der bekannten Leistungsbeurteilungen geprüft und im Notenausweis dokumentiert. Weiterführende, entlang den Stärken oder Interessen der Lernenden erreichte Kompetenzen aus den anderen beiden Informatik-Berufslehren (also auch der Fachrichtung Plattformentwicklung) oder der Mediamatik werden in einem separaten Kompetenzportfolio nachgewiesen.
  • Allumfassendes Lernen Schule und überbetriebliche Kurse wachsen zusammen und öffnen sich gegenüber dem Lehrbetrieb. Zudem wird der Unterricht virtueller: Es sind verschiedene Lernsettings wählbar, vom physischen zum Online-Präsenzlernen, vom Distanzlernen bis zum Selbststudium. Ebenso wird die Gestaltung der für die Entwicklung der Kompetenzen zur Verfügung stehenden Zeit flexibler.

«Hocken den Unterricht nur ab»

Jürg Haller ist seit 2007 Mitglied der Schulleitung der Berufsfachschule BBB und verantwortlich für die ICT-Berufe. Er ist gespannt auf die Erfahrungen, die man mit Lernvolution machen wird. Haller spricht von einem «supercoolen Projekt», um im gleichen Atemzug klar zu machen, dass man «über manche Dinge keine klare Vorstellung» habe – nicht, weil die Planung schlecht sei, sondern weil man sich an den Bedürfnissen der erst gerade in die Lehre eingetretenen Jugendlichen orientiere. «Im heutigen System gelingt genau das nur in ungenügendem Mass. Wir haben in allen Modulen Jugendliche, die sich langweilen, weil sie das Thema aus der Praxis schon kennen oder umgekehrt nie kennen lernen werden. Dann hocken sie den Unterricht nur ab.»

Am Projekt nehmen 16 Lernende teil – eine Gruppe, die Interesse am neuen Modell hat, aber keine besonderen Eignungen mitbringe, wie Steven Walsh sagt. Grundsätzlich haben sie die Möglichkeit, alle Module ausserhalb des schulischen Kontextes zu erlernen. Das Projektteam um Jürg Haller hat darum sämtliche Module des berufskundlichen Unterrichts zu Selbstlernprogrammen umgeschrieben. Ebenso werden auch der allgemeinbildende Unterricht, das Lernprogramm der Berufsmaturität und die beiden Ergänzungsfächer Englisch und Mathematik flexibilisiert. Im Rahmen der Projektdiskussionen habe die Projektgruppe gemerkt, dass man auch diese Fächer neu organisieren müsse, sagt Jürg Haller. «Wie weit wir damit kommen, wissen wir noch nicht. Klar ist, dass wir, wenn wir diese Fächer selbstorganisiert und kompetenzorientiert unterrichten wollen, auch das Prüfen anpassen müssen.» Jürg Haller geht davon aus, dass die Jugendlichen rund 10 bis 40 Prozent des Stoffes ausserhalb der Berufsfachschule erlernen werden – im Rahmen eines «Social-Blended-Learning». Hier arbeiten die Jugendlichen in immer neuen Lerngruppen und tauschen sich via Moodle, Teams und E-Mail, aber auch physisch an einem anderen Ort als der BBB aus.

Lehrpersonen werden Kompetenzcoaches

Die Lehrpersonen werden künftig nicht mehr pro Klasse, sondern pro Lernende oder Lernender bezahlt. Wie weit dabei der aktuelle Stellenetat der BBB eingehalten werden kann, ist offen.

Die Flexibilisierung von Inhalt, Form und Zeitpunkt des Lernens hat weitreichende Folgen auf die Organisation des Unterrichts. Die im Projekt beteiligten zwanzig Lehrpersonen agieren künftig nicht mehr als Wissensvermittler, sondern als Kompetenzcoaches.

  • Sie besprechen mit den Lernenden Lernziele und -formen und begleiten sie bei der Umsetzung. Dabei stellen sie sicher, dass die Vorgaben des Bildungsplanes und der Modulidentifikationen erfüllt werden.
  • Sie erarbeiten und pflegen die schulischen Inhalte und bereiten diese methodisch und didaktisch für eine optimale Kompetenzentwicklung in verschiedenen Lernformen auf.
  • Wo nötig geben sie in geeigneter Form in Präsenz oder auf Distanz Inputs für eine anschliessende Vertiefung oder Umsetzung.
  • Sie sorgen für die Erarbeitung, Durchführung und Korrektur der Leistungsbeurteilungen und sichern deren Validität.
  • Sie arbeiten eng mit der betrieblichen Lernbegleitung zusammen und kennen die aktuellen Aufgaben der Lernenden. Zudem pflegen sie punktuell auch den Austausch mit Swisscom-Projektanbietenden.

Die Lehrpersonen werden künftig nicht mehr pro Klasse, sondern pro Lernende oder Lernender bezahlt. Wie weit dabei der aktuelle Stellenetat der BBB eingehalten werden kann, ist offen. «Wir erwarten, dass die Komptenzcoaches ganz anders als bisher arbeiten, aber vom zeitlichen Umfang her nicht mehr», sagt Jürg Haller. «Aber eine Sicherheit dafür haben wir nicht. Darum probieren wir es aus.»

Übertragbar auf andere Schulen und Berufe?

Lernvolution ist eines der konsequentesten und interessantesten Projekte in der Schweizer Berufsbildung. Es nutzt zwei günstige Voraussetzungen: Alle Lernenden arbeiten im gleichen Betrieb. Und sie durchlaufen zwei vollständig modularisierte berufliche Grundbildungen, was eine flexible Sequenzierung des Lernens erleichtert. Wie weit das Modell – sollte es erfolgreich sein – auf andere Berufe und Schulen übertragbar ist, ist darum offen. Jürg Haller geht davon aus, dass das Projekt auch auf andere Berufe ausstrahlen werde – und übertragbar sei. Kathrin Hunziker, Leiterin Abteilung Berufsbildung und Mittelschule des Kantons Aargau, ist in ihren Erwartungen etwas zurückhaltender. Im Interview mit Transfer sagt sie: «Es gilt erst mal die Erfahrungen aus dem Projekt Lernvolution abzuwarten. Aber man kann wohl heute schon sagen, dass sich ein solches Modell nur für anspruchsvolle 3- oder 4-jährige Lehren eignen wird.»

«Der Impact dieses Projekts ist schwierig abzuschätzen»

Gespräch mit Kathrin Hunziker

Kathrin Hunziker, Leiterin Abteilung Berufsbildung und Mittelschule des Kantons Aargau: «Dieses Projekt wird viel Flexibilität brauchen; einerseits von den Lernenden, aber insbesondere auch von den Kompetenzcoaches und den Lernbegleiter/innen».

Kathrin Hunziker, warum unterstützt der Kanton Aargau Lernvolution?
Die Projektverantwortlichen der Berufsfachschule BBB und der Swisscom konnten dem Kanton Aargau nachvollziehbar die Chancen dieses Projektes aufzeigen. Der Kanton Aargau ist einerseits kantonsintern bestrebt, Abläufe und Prozesse zu optimieren und digital zu transformieren, andererseits ist er auch auf nationaler Ebene engagiert, um verschiedenste Themen innerhalb der Berufsbildung voranzubringen und diesbezüglich Verantwortung zu übernehmen.

Welche Bewilligungen waren dafür erforderlich?
Da die Lern- und Leistungsziele nicht von den gesetzlichen Grundlagen (einschlägige Bildungsverordnung und dazugehöriger Bildungsplan) abweichen, mussten unsererseits keine besonderen Bewilligungen erteilt werden. Lediglich der Umstand, dass alle 16 Lernenden ein und demselben praktischen Ausbildungsbetrieb zugewiesen sind, musste zuerst geprüft werden. Da aber Swisscom bereits seit 2004 einen digitalen Markplatz betreibt, auf dem die Lernenden zu ihren Kompetenzen und ihrem Entwicklungsbedarf passende Einsatzorte und Projekte auswählen können, wurde dem Lernort, welcher auch im Sinne des Lehrvertrags offiziell genehmigt wurde, eine untergeordnete Rolle zugeschrieben.

Welche Ausstrahlung erwarten Sie für die gesamte Berufsbildung?
Der Impact dieses Projekts innerhalb der schweizerischen Berufsbildung ist schwierig abzuschätzen. Es kann und muss an dieser Stelle sicherlich erwähnt werden, dass sich ein solches Ausbildungsmodell nur für sehr gute Lernende eignet. Mit «gut» meinen wir insbesondere auch die ausgeprägten kognitiven Fähigkeiten, welche die Lernenden mitzubringen haben. Es wird viel Flexibilität brauchen; einerseits von den Lernenden aber insbesondere auch von den Kompetenzcoaches und den Lernbegleiter/innen.

Wie übertragbar ist das Projekt auf andere Berufe oder weitere Betriebe?
Es gilt erst mal die Erfahrungen aus dem Projekt Lernvolution abzuwarten. Wie erwähnt kann man aber wohl heute schon sagen, dass sich ein solches Modell nur für anspruchsvolle 3- oder 4-jährige Lehren eignen wird. Für zweijährige Attest-Ausbildungen beispielsweise kommt ein solches Ausbildungsmodell sicherlich nicht in Frage. Der Kanton Aargau ist gespannt, welche Erkenntnisse Lernvolution hervorbringen wird und ist gleichermassen offen, zu einem späteren Zeitpunkt ein solches Modell oder zumindest Teile davon zu skalieren.

[1] Details auf der Website von Swisscom. Der Pilotversuch zum Projekt wurde 2004 evaluiert; der Bericht ist nicht öffentlich zugänglich. 2019 hat zudem ein Team der Eidgenössischen Hochschule für Berufsbildung (EHB) über mehrere Monate explorative Fallstudien zur innovativen Lernkultur in der betrieblichen Berufsbildung bei Swisscom durchgeführt. Es wurden semistrukturierte Interviews und Fokusgruppen mit Lernenden, Ausbildungsbegleitenden und dem Management sowie Besuche und Beobachtun­gen von innovativen Projekten durchgeführt. Sie bilden die Basis für das Buch «Next Generation» (Antje Barabasch und Marc Marthaler). Ein zusammenfassender Bericht findet sich in Transfer.

[2] Das Projekt Flexibilisierung der Informatikausbildung (Fleba) ist Teil des Projekts «Informatikausbildung 4.0»; neben Fleba umfasst dieses Programm auch «SOL» – Selbstorganisiertes Lernen und «smartLearn» – handlungsorientierte Lern- und Prüfungsumgebung. Die «Informatikausbildung 4.0» wird auf das kommende Schuljahr 2023/24 weiter flexibilisiert; so können Module im Selbstlernstudium absolviert und jährlich neu priorisiert werden. Weitere Informationen finden sich auf der Website der Berufsfachschule Bern gibb unter dem Stichwort «Informatikausbildung 4.1».

[3] Fleischmann, D. (2017): Lernen, wann und wie es richtig ist. 2/17 (Seite 14f), Panorama, Bern

Zitiervorschlag

Fleischmann, D. (2022). Lernen à la carte. Transfer. Berufsbildung in Forschung und Praxis 7(3).

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