Berufsbildung in Forschung und Praxis
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Ergebnisse einer Befragung von Schulleitungen in der Deutschschweiz

Lernende im Autismus-Spektrum in der Sekundarstufe II

Menschen mit Autismus sind besonders darauf angewiesen, in ihren Bedürfnissen wahrgenommen zu werden. Eine Umfrage zeigt, dass das eine Mehrheit der Schulleitungen auf Sekundarstufe 2 auch so sieht: So bejahen 65% aller Schulen die Frage nach der aktuellen Relevanz des Themas Autismus im Schulhaus, während 35% das (eher) verneinten. In der gross angelegten Befragung konnte 80 Schulleitungen erreicht werden. Sie bilden eine solide Basis für die Schlussfolgerungen der Studie. Hier wird etwa empfohlen, dass innerhalb einer jeden Schule Ansprechpersonen und Zuständigkeiten bei einem konkreten Handlungsbedarf und Fragen für alle Beteiligten klar definiert sind.


1 Einleitung

Von den 80 teilnehmenden Schulen geben 70 (87.5%) an, aktuell Lernende mit einer Autismus-Diagnose zu unterrichten.

Vor dem Hintergrund fehlender empirischer Daten zur schulischen Förderung von Lernenden im Autismus-Spektrum in der Sekundarstufe II in der Schweiz sowie einem zugleich aus Erfahrungsberichten und Beratungskontexten subjektiv abzuleitenden Handlungsbedarf wurde im Herbst 2022 eine Online-Befragung von Schulleitungen zur Einschätzung der aktuellen Situation durchgeführt. Die zentrale Zielsetzung der Befragung bildete dabei, fundierte Erkenntnisse über die Relevanz des Themas Autismus an Schulen der Sekundarstufe II sowie über erlebte Gelingensbedingungen und Hindernisse in der Praxis sowie den dort bestehenden Handlungsbedarf zu gewinnen.

Die folgend präsentierte Studie ist im Rahmen des «Partizipativen Forschungsnetzwerks Autismus in der Schweiz (PFAU)» entstanden.[1] Das Forschungsnetzwerk folgt der Prämisse, Autismusforschung von Beginn an partizipativ zu gestalten. Das bedeutet, dass wir von der Themenfindung über die Projektplanung und -durchführung bis hin zur Auswertung und Interpretation der gewonnenen Daten durchgehend gemeinsam in einem Team von Forscherinnen und Forschern mit und ohne Autismus gearbeitet haben.

2 Stichprobe

In die Auswertung sind die Antworten von 80 Schulleitungen eingeflossen. Die beteiligten Schulen verteilen sich auf die deutschsprachigen sowie zweisprachigen Kantone der Schweiz. Die meisten Schulen liegen im Kanton Zürich (28), gefolgt von den Kantonen Bern (11), St.Gallen (6) und Aargau (5). Die weiteren 30 Schulen verteilen sich auf andere Kantone.

52 Schulen (65%) konnten der Kategorie «Allgemeinbildende Schulen Sek II» – bestehend aus gymnasialen Maturitätsschulen mit und ohne zugehörige spezifische Mittelschulen sowie selbständigen Handelsmittelschulen – zugeordnet werden. Die zweite grosse Kategorie der Befragung umfasst 26 Berufsfachschulen (32,5%).

3 Zusammenfassung der Ergebnisse

Lernende im Autismus-Spektrum

Von den 80 teilnehmenden Schulen geben 70 (87.5%) an, aktuell Lernende mit einer Autismus-Diagnose zu unterrichten. 50 dieser Schulen werden zusätzlich von Lernenden mit einem noch nicht abgeklärten Diagnoseverdacht besucht. Sieben Schulen geben an, aktuell keine Lernenden im Autismus-Spektrum zu unterrichten, drei Schulen berichten ausschliesslich von Lernenden mit einem Diagnoseverdacht. Diese Zahlen verdeutlichen die hohe Präsenz des Themas.

Die Anzahl der Lernenden im Autismus-Spektrum an den einzelnen Schulen zeigt eine breite Varianz auf. Die Schulen, die von Lernenden mit einer Autismus-Diagnose besucht werden, geben zu knapp 60% an, dass es sich dabei um ein bis drei Lernende handelt, bei 23% sind es vier bis sechs Lernende, bei 14% sieben bis zehn Lernende und bei 4% mehr als zehn Lernende.

Das Wissen über individuelle Charakteristika ihrer Lernenden im Autismus-Spektrum bewerten die Schulen sehr unterschiedlich. So geben 50% der allgemeinbildenden Schulen und 35% der Berufsfachschulen an, ein ausreichendes bzw. detailliertes Wissen über ihre Lernenden zu haben. Bei einer gleichzeitigen Angabe von ca. 45% lückenhaften Wissens an beiden Schulformen und 12% nicht vorhandenen Wissens an den Berufsfachschulen wird ein möglicher Informationsbedarf deutlich. Eine Aufklärung der Schulklasse oder Schulstufe über die Diagnose bzw. die individuellen Besonderheiten findet an allgemeinbildenden Schulen ebenfalls deutlich häufiger statt (50%) als an Berufsfachschulen (27%).

Wissen zum Thema Autismus

Die Relevanz der Thematik wird neben den bisherigen Bezügen bei einer direkten Abfrage deutlich. So beantworten 65% aller Schulen die Frage nach der aktuellen Relevanz des Themas Autismus im Schulhaus mit «ja» / «eher ja,» während 35% bei «eher nein» / «nein» liegen.

Dass das Basiswissen über das gesamte Schulteam verbreitet ist, geben knapp 40% der allgemeinbildenden Schulen, jedoch nur 15% der Berufsfachschulen an.

Befragt nach der Einschätzung des vorhandenen Wissens wird deutlich, dass die meisten Schulen angeben, dass sie einzelne Teammitglieder mit einem Basiswissen haben (73% der Berufsfachschulen, 52% der allgemeinbildenden Schulen). Dass das Basiswissen über das gesamte Schulteam verbreitet ist, geben knapp 40% der allgemeinbildenden Schulen, jedoch nur 15% der Berufsfachschulen an. Teammitglieder mit besonderer Expertise finden sich an 30% der allgemeinbildenden Schulen und knapp 20% der Berufsfachschulen. An 36% der Schulen sind bereits Informations- und Weiterbildungsveranstaltungen zum Thema Autismus durchgeführt worden.

Autismusspezifische Unterstützungsangebote

Der Blick auf zum Einsatz kommende Unterstützungsangebote in Form von personeller Begleitung oder dem Einsatz formaler Massnahmen zeigt auf, dass der Nachteilsausgleich mit 96% mit grossem Abstand das meistgenutzte Angebot darstellt. Es folgen die personellen Unterstützungsangebote Lerncoaching mit 33%, Schulsozialarbeit mit 19%, schulische Heilpädagogik mit 9% und Klassenassistenz mit 5%.

Bei einer Abfrage konkreter Nachteilsausgleiche zeigt sich, dass diese eine begrenzte Vielfalt aufweisen. So geben 86% der Schulen an, das Angebot «mehr Zeit bei Prüfungen» anzuwenden. Die nächsthäufigen Angebote sind «ein ruhiger Raum für Prüfungen» mit 51% und «Einzelarbeit statt Gruppenarbeit» mit 45%. Weitere Formen werden bei weniger als 30% der Schulen angeboten. Eine «Anpassung der Aufgabenstellungen» wird beispielsweise nur an 17% der Schulen ermöglicht.

Befragt nach den Unterstützungsangeboten für Lehrpersonen geben 60% der allgemeinbildenden Schulen und 40% der Berufsfachschulen an, dass ihnen verschiedene Optionen zur Verfügung stehen. An den allgemeinbildenden Schulen stellt die Inanspruchnahme externer Beratung mit 38% die am häufigsten genutzte Unterstützungsform dar, an den Berufsfachschulen sind dies interne Weiterbildungsangebote (28%), während externe Beratung von 16% der Schulen genutzt wird.

Gelingensbedingungen

Zu den mit offenen Fragen erhobenen Gelingensbedingungen einer schulischen Integration von Lernenden im Autismus-Spektrum geben die Schulleitungen sehr differenzierte Hinweise, sowohl für die Ebene der Lernenden, der Fachpersonen als auch der Mitschülerinnen und Mitschüler. Auf der Ebene der Lernenden werden am häufigsten die Bereitstellung adäquater «Strukturen und Ressourcen», eine «wertschätzende Haltung» sowie das Anbieten von «individuellen Lösungen» benannt. Auf der Ebene der Fachpersonen stehen das «Wissen über Autismus» und die «Unterstützung durch (externe) Fachpersonen» im Vordergrund (Abb. 1). Auf der Ebene der Mitschülerinnen und Mitschüler werden schliesslich «Information, Aufklärung und Sensibilisierung» sowie eine «offene, wertschätzende Kommunikation» als besonders relevant hervorgehoben.

Abbildung 1: Gelingensbedingungen für Fachpersonen nach Häufigkeit der Nennung.

Hindernisse

Als Hindernisse für die Lernenden werden fehlende «Strukturen und Ressourcen» mit Abstand am häufigsten erwähnt.

Hindernisse und Herausforderungen der schulischen Integration von Lernenden im Autismus-Spektrum werden ebenfalls für die Ebenen der Lernenden, der Fachpersonen sowie der Mitschülerinnen und Mitschüler benannt. Als Hindernisse für die Lernenden werden fehlende «Strukturen und Ressourcen» mit Abstand am häufigsten erwähnt. Diese Kategorie umfasst u.a. Aspekte wie die Klassengrösse, Planänderungen oder den regelmässigen Lehrpersonenwechsel. Auf der Ebene der Fachpersonen steht die «zusätzliche Beanspruchung» durch neue Themen und Anforderungen im Vordergrund, gefolgt von unpassenden «Strukturen und Ressourcen» sowie dem «fehlenden Wissen über Autismus». Auf der Ebene der Mitschülerinnen und Mitschüler werden parallel zu den Gelingensbedingungen «fehlende Informationen» und ein damit verbundenes «fehlendes Verständnis» als besonders hinderlich benannt.

Handlungs- und Optimierungsbedarf

Als zentrale Inhalte einer autismusspezifischen Professionalisierung benennen die Befragten die Bereitstellung von «Informationsmaterialien über autismusspezifische Unterstützung» sowie «autismusspezifische Beratungsangebote» mit je knapp 50%. Auch die weiteren angebotenen Professionalisierungsangebote «Schriftliche Informationsmaterialien über Autismus», «Unterstützung bei der Aufklärung der Klasse» und «Weiterbildung zum Thema Autismus» werden mit ca. 40% unseres Erachtens durchaus hoch gewichtet. Bei den ergänzenden offenen Antworten sticht der mehrfach erwähnte Stufenbezug von Weiterbildungen und Beratungen als besonders beachtenswert hervor (Abb. 2).

Abbildung 2: Wünsche für eine autismusspezifische Professionalisierung in Prozentzahlen.

4 Empfehlungen für eine Weiterentwicklung von Schulen der Sekundarstufe II

Auf der Grundlage der aus dieser Studie zusammengetragenen Erkenntnisse – ergänzende Hinweise aus der aktuellen Fachdiskussion mitdenkend – möchten wir folgend handlungsleitende Empfehlungen formulieren. Diese richten sich unmittelbar an die Schulen der Sekundarstufe II. Ergänzende Ausführungen zu den einzelnen Empfehlungen sind dem Forschungsbericht zu entnehmen. Es wird empfohlen

  1. dass sich jede Schule mit der Vielfalt ihrer Lernenden und deren individuellen Lernwegen auseinandersetzt, mit dem Ziel, eine (neuro)diversitätsfreundliche Haltung zu etablieren.
  2. dass jede Schule im Schulteam ein Basiswissen zum Thema «Autismus verstehen» aufbaut.
  3. dass jede Schule eine bzw. mehrere Fachpersonen mit einer spezifischen Expertise zur schulischen Förderung von Lernenden im Autismus-Spektrum ausstattet.
  4. in die Aufklärung und Sensibilisierung zum Thema Autismus die Innenperspektive von Personen im Autismus-Spektrum (z. B. Lernende, externe Personen) einzubeziehen.
  5. dass innerhalb einer jeden Schule Ansprechpersonen und Zuständigkeiten bei einem konkreten Handlungsbedarf und Fragen für alle Beteiligten klar definiert sind.
  6. dass allen Fachpersonen in der Sekundarstufe II praxisnahe Informationsmaterialien zum Verstehen und zur Unterstützung von Lernenden im Autismus-Spektrum – mit adäquatem Alters- und Stufenbezug – leicht zugänglich zur Verfügung stehen.
  7. ass jede Schule externe autismusspezifische Beratungsangebote – mit adäquatem Alters- und Stufenbezug – niederschwellig in Anspruch nehmen kann und diese im Bedarfsfall nutzt.
  8. die Handlungsspielräume möglicher Anpassungen in der Gestaltung des Schulalltags (u. a. Nachteilsausgleiche) in einer Schule zu definieren und im Einzelfall angemessen auszuschöpfen.
  9. der direkten Partizipation der Lernenden im Autismus-Spektrum bei Anpassungen in der Gestaltung des Schulalltags und weiteren Entscheidungsfindungen ausreichend Raum zu geben.
  10. der im Jugendalter hoch relevanten Interaktion in der Gleichaltrigengruppe besondere Aufmerksamkeit zu schenken und sowohl Lernende ohne Autismus als auch Lernende im Autismus-Spektrum durch angemessene Unterstützung positive Begegnungen zu ermöglichen.

5 Ausblick

Die dargestellten Ergebnisse und Empfehlungen geben zahlreiche konkrete Hinweise, wie die schulische Förderung und die Begleitung von Lernenden im Autismus-Spektrum in der Sekundarstufe II weiterentwickelt werden können.

Die dargestellten Ergebnisse und Empfehlungen geben zahlreiche konkrete Hinweise, wie die schulische Förderung und die Begleitung von Lernenden im Autismus-Spektrum in der Sekundarstufe II weiterentwickelt werden können.

Die umfangreichen und differenzierten Antworten der Schulleitungen zeigen auf, dass wir dafür einerseits bereits zahlreiche Erfahrungen und Beispiele gelingender Praxis nutzen können, andererseits weiterhin ein grosser Handlungsbedarf zu bestehen scheint. Unsere zehn Empfehlungen fokussieren dabei primär, welche Handlungsoptionen die einzelnen Schulen haben und ausschöpfen können.

Dass die Schulen auf Unterstützung in Form von Ressourcen und Strukturen – zum einen auf einer Verwaltungsebene, zum anderen auf einer autismusspezifisch fachlichen Ebene – angewiesen sind, ist uns bewusst. So benötigt es unseres Erachtens u.a. eines Ausbaus qualitativ hochwertiger, autismusspezifischer und zugleich stufenbezogener Beratungs- und Weiterbildungsangebote wie auch Informationsmaterialien. Auch der Stellenwert des Themas Autismus in der Ausbildung von Lehrpersonen und anderen in der Sekundarstufe II tätigen Fachpersonen sollte unseres Erachtens eine Aufwertung erfahren. Und schliesslich kommt der Schulpolitik und -verwaltung mit der Bereitstellung ausreichender finanzieller und personeller Ressourcen ein hoher Stellenwert zu. Herausforderungen bleiben in diesem Sinne zahlreich, zugleich finden sich konkrete Handlungsoptionen zur Optimierung der aktuellen Situation für die einzelnen Lernenden.

Den vollständigen Forschungsbericht finden Sie im Internet hier

[1] Als weitere Autorinnen und Autoren haben an diesem Beitrag mitgewirkt: Jeannette Bossert, Mireya Garcia, Iris Köppel, Stefanie Rickenbach und Michèle Schlatter.

Literatur

Die folgenden Quellen geben einen Überblick über den aktuellen Fachdiskurs zur schulischen Förderung und Begleitung von Lernenden im Autismus-Spektrum und bildeten die massgebliche Grundlage für die Entwicklung der Zielsetzung und der Online-Befragung.

  • Eckert, A. (2021a) (Hrsg.). Autismus in Kindheit und Jugend. Grundlagen, Praxis und Perspektiven der Begleitung und Förderung in der Schweiz. Bern: Edition SZH/CSPS.
  • Eckert, A. (2021b). Autismussensibler Unterricht. In Kunz, A., Luder, R. & Müller Bösch, C. (Hrsg.). Inklusive Pädagogik und Didaktik. Bern: Hep-Verlage, 135-145.
  • Jordan, R., Roberts, J. & Hume, K. (2019). The SAGE Handbook of Autism and Education. LA: Sage.
  • Markowetz, R. (2020). Schüler mit Autismus-Spektrum-Störung im inklusiven Unterricht. Praxistipps für Lehrkräfte. München: Reinhardt.
  • Schirmer, B. (2016). Schulratgeber Autismus-Spektrum: Ein Leitfaden für LehrerInnen (4. Aufl.). München: Reinhardt.
  • Schuster, N. (2020). Schüler mit Autismus-Spektrum-Störungen: Eine Innen- und Außenansicht mit praktischen Tipps für Lehrer, Psychologen und Eltern. (5. aktualisierte Auflage). Kohlhammer.
  • Teufel, K. & Soll, S. (2021). Autismus-Spektrum-Störungen. Psychologie im Schulalltag. Göttingen: Hogrefe
  • Ullrich, K. (2017). Modelle schulischer Rahmenbedingungen. In Noterdaeme, M., Ullrich, K. und Enders, A. (Hrsg.). Autismus-Spektrum-Störungen: Ein integratives Lehrbuch für die Praxis. Kohlhammer, 351-353.
  • Vero, G. (2020). Das andere Kind in der Schule. Autismus im Klassenzimmer. Stuttgart: Kohlhammer.
  • Wilkinson, L.A. (2017). A best practice guide to assessment and intervention for Autism Spectrum Disorder in schools (2. Auflage). London: Jessica Kingsley Publishers.
Zitiervorschlag

Stucki, E., & Eckert, A. (2023). Lernende im Autismus-Spektrum in der Sekundarstufe II. Transfer. Berufsbildung in Forschung und Praxis 8(13).

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