Die SGAB vergab erstmals einen Berufsbildungspreis
Neue Wege dank Realto
Die SGAB hat am Freitag, 27. November im Rahmen einer Tagung erstmals einen Anerkennungspreis für gute Berufsbildungsforschung vergeben. Erster Preisträger ist das Projekt Realto. In diesem digitalen Raum begegnen sich Berufsfachschule und berufliche Praxis, heute arbeiten mehr als 250 Lehrkräfte, rund 100 Betriebe aus zehn Berufen und etwa 1500 Lernende mit dem Instrument. Im vorliegenden Beitrag zeigt Jean-Luc Gurtner, einer der Entwickler, wie Realto gerade in Corona-Zeiten weitere Bedeutung als Forum der Lernortkooperation erhalten könnte. Weitere Informationen zum Preis und den weiteren nominierten Projekten finden Sie auf unserer Website.
Realto ist eine digitale Plattform. Sie führt die verschiedenen Bildungspartner der beruflichen Grundbildung (Lehrbetriebe, Berufsfachschule, überbetriebliche Kurse) anhand von Fotos von Situationen, denen die Lernenden in der Praxis begegnen, zusammen. Wie eine Brücke verbindet die Plattform die Lernorte und und erleichtert den Transfer von Erfahrungen oder Erkenntnissen, die in dem einen oder anderen Kontext gemacht wurden. So ermöglicht Realto den Lehrpersonen, Erfahrungen der Lernenden mit Kommentaren anzureichern, von denen auch die Bildungsverantwortlichen in den Unternehmen profitieren können. Gegenwärtig arbeiten mehr als 250 Lehrkräfte, rund 100 Betriebe aus zehn Berufen und etwa 1500 Lernende mit dem Instrument – hauptsächlich zur Erstellung von Lerndokumentationen. Realto ist kostenlos zugänglich und in allen drei Landessprachen verfügbar. Realto wurde vom Leading House «Dual-T» entwickelt (EPFL, Universität Freiburg, EHB-Lugano). Wir haben es in Transfer 2/2017 bereits einmal beschrieben und auf Youtube dokumentiert. An dem Projekt nahm rund ein Dutzend Mitarbeitende teil.1
Die Allgegenwart der Bilder
Eine der bemerkenswertesten Folgen moderner Technologien bildet die zunehmende Bedeutung von Bildern. Sie verändert die Art und Weise, wie wir uns verhalten. Kameras und Videoplayer werden heute viel häufiger eingesetzt als Texteditoren; aktuelle Handbücher enthalten bald nur noch Diagramme und fast keine verbalen Erklärungen mehr. Es gibt zahlreiche wissenschaftliche Belege dafür, dass Lernenden über die Kombination von Bild und Text im selben Raum sich vermittelte Informationen am effektivsten merken können – vorausgesetzt, die in Sprache und Bild vermittelten Informationen sind kohärent, nahe beieinander und nicht redundant (Larkin & Simon, 1987; Mayer, 2003). Bilder haben besonders in der Kultur von Jugendlichen und jungen Erwachsenen eine hohe Bedeutung; die von ihnen sehr häufig genutzten Anwendungen WhatsApp, Facebook oder Instagram räumen Fotografien und Videos immer mehr Platz ein.
Auch Realto, die Plattform, die unsere Forschungsgruppe für die Berufsbildung in der Schweiz entwickelt hat, ist davon betroffen. So drängten Lehrpersonen aus verschiedenen Berufen (z.B. aus den Bereichen Mode, Schönheitspflege oder Gartenbau) darauf, die Anzahl der Bildverarbeitungswerkzeuge von Realto zu vervielfachen. Nun erlaubt die Plattform es auch, Bilder nebeneinander zu stellen, bestimmte Zeichen und Markierungen einzufügen oder Kommentare zu hinterlegen. Ziel solcher Instrumente ist es, die Lernenden zu ermutigen, einen Sinn zu entwickeln für die Besonderheiten etwa eines Kleidungsstücks oder zu lernen, wie man ein Hautproblem erkennt oder die mangelnde Pflege einer Pflanze.
Diese neuen Funktionen der Plattform haben Auswirkungen auf das Lernen, wie unsere Forschungen zeigen (Caruso, Cattaneo, Gurtner & Ainsworth, 2018 ; Coppi, Oertel & Cattaneo, soumis). Die Beobachtungen der Lernenden sind differenzierter geworden, weil sie immer vertrauter im Umgang mit diesen Techniken wurden; damit gleicht ihr Vorgehen immer mehr dem einer erfahrenen Person. Zudem ermöglichen es moderne Computer auch, vorhandene Aufnahmen mit virtuell generierten Bildern zu ergänzen. Wir alle kennen Fotografien von Menschen, die zeigen, wie diese in zehn oder zwanzig Jahren aussehen werden. Solche Möglichkeiten kann man auch in der Ausbildung von Lernenden nutzen; so können Gartenbauer/innen sehen, wie ein Garten in einer anderen Jahreszeit oder in einigen Jahren aussehen wird (Kim et al., 2020). Ein Beispiel dafür findet sich auf Youtube.
Lernen durch Bildaustausch
Auf Realto können Lehrerinnen und Lehrer, aber auch die Lernenden Bilder und Videos einstellen. Sie können dies spontan oder auf Wunsch ihrer Lehrperson tun. So fliessen Erfahrungen, die verschiedene Lernende gemacht haben, in die Diskussion in der Klasse einfliessen – Variationen desselben Gerichts, verschiedene Formen eines Brautstrausses oder die unterschiedlichen Arten, wie man Kundschaft empfängt. Die Bilder bieten den Lernenden Anknüpfungspunkte, sich über Arbeitsmethoden auszutauschen und damit ihr Verständnis für ihren Beruf über den eigenen Betrieb hinaus zu erweitern (Cattaneo & Aprea, 2018).
Realto bietet damit eine Art «Erfahrraum» – einen Ort, wo Erfahrungen ausgetauscht werden können (Schwendimann et al., 2015). In der beruflichen Bildung können Informations- und Kommunikationstechnologien ein hervorragendes Mittel sein, um die Arbeit im Klassenzimmer näher an die Erfahrungen am Arbeitsplatz heranzuführen und umgekehrt. Erste Daten aus unseren Umfragen zeigen, dass dort, wo Realto genutzt wird, die Lernenden die Zusammenhänge zwischen der Arbeit in ihrem Betrieb und ihrer Ausbildung in der Berufsfachschule besser wahrnehmen. Sie haben das Gefühl, dass die beiden Ausbildungsorte mehr miteinander kommunizieren. Die Lernenden wünschen sich sogar eine noch engere Verbindung der beiden Lernorte.
Die Chance für eine neue Pädagogik
Aber Realto ist nicht nur ein weiteres Werkzeug – es ist eine offene Tür für eine neue Pädagogik, eine neue Möglichkeit, die Kooperation zwischen betrieblichem um schulischem Lernort zu fördern, sei es in der beruflichen Grundbildung oder anderen dualen Lernformen (Gurtner, Furlan & Cattaneo, 2019). Um die Verbesserung dieser Lernortkooperation geht es uns; dafür können auch andere technische Hilfsmittel als Realto nützlich sein, beispielsweise Teams von Microsoft. Die Pandemie hat die Schulen gezwungen, solche Programme zu nutzen, um Lehrerinnen und Schüler trotz Bewegungseinschränkungen miteinander in Kontakt zu bringen. Und auch innerhalb von Unternehmen ist Teams in nur wenigen Monaten zu einem wichtigen Portal geworden, um Teambesprechungen durchzuführen.
Es ist gut möglich, dass Teams eines Tages Realto ersetzen wird. Allerdings bilden die Gebühren dabei ein beträchtliches Hindernis. Rechtlich gesehen gehören betriebliche Ausbilder nicht zum Schulpersonal, und Lehrpersonen gehören nicht zum Kreis von Betriebsangehörigen. Das hat zur Folge, dass die beiden Bildungspartner keinen Zugang zu denselben Teams haben – und sich somit nicht so leicht wie bei Realto treffen können. Deshalb arbeiten unsere Entwickler derzeit an der Entwicklung eines Gateways zwischen den Plattformen; das soll es ermöglichen, die Stärke und Vielseitigkeit von Teamsbeizubehalten, ohne auf die einfache Verbindung zwischen den von Realto angebotenen Schulungsorten zu verzichten. Die Abbildung zeigt ein Beispiel für eine solche Lösung, bei der Realto wie ein Reiter in ein Teams-Universum passt.
Literatur
- Caruso, V., Cattaneo, A., Gurtner, J-L., & Ainsworth, S. (2018). Professional Vision in Fashion Design: Practices and Views of Teachers and Learners. Vocations and Learning. https://doi.org/10.1007/s12186-018-09216-7
- Cattaneo, A. A. P., Gurtner, J.-L., & Felder, J. (in press). Digital tools as boundary objects to support connectivity in dual vocational education: Towards a definition of design principles. In I. Zitter, E. Kyndt, & S. Beausaert (Eds.), At the intersection of (continuous) education and work: Practices and underlying principles. Routledge.
- Cattaneo, A., & Aprea, C. (2018). Visual technologies to bridge the gap between school and workplace in vocational education. In D. Ifenthaler (Ed.), Digital Workplace Learning. Bridging Formal and Informal Learning with Digital Technologies (pp. 251-270). Springer. https://doi.org/10.1007/978-3-319-46215-8_14 .
- Coppi, A.E., Oertel, C., & Cattaneo, A. (soumis). Effects of Experts’ Annotations on Fashion Designers Apprentices’ Gaze Patterns and Verbalisations.
- Gurtner, J-L, Furlan, N., & Cattaneo, A. (2019). L’articulation des connaissances n’est pas la tâche des seul·e·s apprenti·e·s. In L. Bonoli, J-L. Berger, N. Lamamra (dir.). Enjeux de la formation professionnelle en Suisse. Le « modèle » suisse sous la loupe (pp. 253-266). Zurich et Genève : Editions Seismo.
- Kim, K. G., Oertel, C., Dobricki, M., Olsen, J. K., Coppi, A. E., Cattaneo, A., & Dillenbourg, P. (2020). Using immersive virtual reality to support designing skills in vocational education. British Journal of Educational Technology. https://doi.org/10.1111/bjet.13026.
- Larkin, J. H., & Simon, H. A. (1987). Why a diagram is (sometimes) worth ten thousand words. Cognitive science, 11(1), 65-100.
- Mayer, R. E. (2003). The promise of multimedia learning: using the same instructional design methods across different media. Learning and instruction, 13(2), 125-139. https://doi.org/10.1016/S0959-4752(02)00016-6.
- Schwendimann, B. A., Cattaneo, A. A., Dehler Zufferey, J., Gurtner, J. L., Bétrancourt, M., & Dillenbourg, P. (2015). The ‘Erfahrraum’: a pedagogical model for designing educational technologies in dual vocational systems. Journal of Vocational Education & Training, 67(3), 367-396. https://doi.org/10.1080/13636820.2015.1061041.
Zitiervorschlag
Gurtner, J. (2020). Neue Wege dank Realto. Transfer. Berufsbildung in Forschung und Praxis 5(4).