Berufsbildung in Forschung und Praxis
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Nationalfonds-Studie «Von der Meisterlehre zur dualen Berufsbildung – zur Renaissance der Berufsbildung (1960-2015)»

Systematisch in die Berufsbildung investiert

Die Berufsbildung hat sich seit den 1960er-Jahren stark verändert. Lange war sie geprägt durch ein patriarchalisches Verhältnis von Meister und Lehrling. Die «Meisterlehre» wurde in den 1970er-Jahren von Jugendlichen, gewerkschaftsnahen Kreisen und politischen Protestparteien denn auch heftig kritisiert. Angeprangert wurden der Einsatz von Lehrlingen als billige Hilfskräfte, die wenigen Lernmöglichkeiten und generell eine Benachteiligung gegenüber Gymnasiastinnen und Gymnasiasten. Diese Kritik setzte die Berufsbildung unter Reformdruck. Durch eine Vielzahl an Massnahmen entwickelte sie sich seither zu einer echten Bildungsalternative. In einer vom Schweizerischen Nationalfonds geförderten Studie hat ein Team der Universität Zürich diese Entwicklung von den 1960er-Jahren bis heute für einzelne Kantone (Zürich, Genf, Luzern, Neuchâtel, Tessin), aber auch für die Gesamtschweiz nachgezeichnet.


Seit dem Ende des Zweiten Weltkriegs boomt weltweit die Bildung, insbesondere auf der Ebene der Hochschulen. Der Ausbau des Bildungssystems lohnt sich: Dank mehr Bildung steigen die Lebensqualität, die gesellschaftliche Wohlfahrt und die Innovations- und Leistungsbilanz der Wirtschaft insgesamt. Dass in der Schweiz nicht nur die Gymnasien und Hochschulen expandierten, sondern auch die Berufsbildung stetig an Bedeutung gewann, ist ein Verdienst der schweizerischen Bildungspolitik.

Ausbau der Berufsbildung durch Fördergesetzgebungen

Dass in der Schweiz nicht nur die Gymnasien und Hochschulen expandierten, sondern auch die Berufsbildung stetig an Bedeutung gewann, ist ein Verdienst der schweizerischen Bildungspolitik.

Eine wichtige Rolle für diesen Erfolg spielten die Gesetzgebungen auf Bundesebene. Gesetze klären nicht nur Zuständigkeiten und Kompetenzen, sie eröffnen auch Möglichkeiten. Die Berufsbildungsgesetzgebung ist im wesentlichen als Fördergesetzgebung ausgerichtet, die die Akteure ermutigt, im Rahmen gewisser Qualitätsvorgaben Lehrstellen zu schaffen und neue Angebote in der beruflichen Grund- und Weiterbildung zu etablieren.

Die Berufsbildung zu stärken (und nicht zu schwächen) entsprach der Überzeugung, dass es neben einer ursprünglich schmalen Elite von Mittelschulabgängern auch eine breite und zu verbreitende Gruppe von auszubildenden Jugendlichen brauchte, um den wirtschaftlichen Erfordernissen und dem technologischen Wandel zu genügen. Die Stärkung der Berufsbildung war ein langfristiges Projekt und sollte die Berufsbildung gerade auch gegenüber dem Gymnasium als attraktive Alternative erscheinen lassen.

Pädagogisierung und Differenzierung: die entscheidenden 1970er-Jahre

In den 1960er-Jahren sank der Gesamtbestand der Lehrverträge. Von Gewerkschaftsseite wurde dafür der (zu) starke gewerbliche Charakter der Berufsbildung verantwortlich gemacht, während der Schweizerische Gewerbeverband weitere Möglichkeiten der «Verbesserung der Berufslehre» prüfen wollte, damit diese «als echte Alternative zum Besuch der Mittelschule» gelten könne. Eine vom Bund eingesetzte Expertenkommission «Grübel» nahm diese Anliegen auf. In der bundesrätlichen Botschaft zu einem neuen Berufsbildungsgesetz, das 1980 in Kraft trat, wurden denn auch folgende Anliegen erstmals festgehalten:

  • Es sei eine Möglichkeit für die Berufsverbände, mit Modell-Lehrgängen die praktische Ausbildung der Lehrlinge systematischer zu gestalten, zu schaffen.
  • Gesetzlich zu verankern seien die Berufsschullehrerausbildung, die Berufsmittelschule, die Anlehre und– neben den bereits bestehenden Höheren Technischen Lehranstalten – die Technikerschule und die Höhere Wirtschafts- und Verwaltungsfachschule sowie die Förderung der Berufsbildungsforschung.
  • Die bisherigen Lernorte Betrieb und Schule seien durch einen dritten zu ergänzen. Damit sei es neben dem Unterricht in der Berufsschule nicht mehr nur der einzelne Lehrmeister, der einen Lehrling unterweise. Vielmehr habe ein Teil der Ausbildung «kollektiv, in Form von so genannten Einführungskursen», zu erfolgen.

Die meisten Anliegen wurden von allen Interessengruppen geteilt. Nur die Anlehre wurde von Gewerkschaftsseite als »Schnellbleiche» vergeblich bekämpft. Wenig Aussicht auf Erfolg hatte auch die aus dem links politisierenden Parteien- und Gewerkschaftsspektrum lancierte Initiative zur Schaffung von zusätzlichen «öffentlichen Lehrwerkstätten» (mit 10’000 Ausbildungsplätzen), welche mit dem Argument der besseren Qualität die gesamte berufliche Bildung in einem (schulischen) Lernort konzentrieren wollte.

In der neuen Gesetzgebung wurden neben einer stärkeren pädagogischen Strukturierung der beruflichen Bildung eine Differenzierung und ein Ausbau der weiterführenden beruflichen Bildung festgehalten.

Die Erweiterung der Berufsbildung in den 1990er-Jahren

Ab Mitte der 1980er-Jahre sank nach einem stetigen Anstieg die Quote der Berufsbildungsabschlüsse erneut. Wieder wurde ein Handlungsbedarf gegenüber den wachsenden gymnasialen Maturitäten geltend gemacht. Durch internationale Vergleiche beflügelt, wurde von bundesrätlicher Seite, den Höheren Technischen Lehranstalten wie von (Berufs-)Mittelschulvertretern die Idee einer Berufsmaturität lanciert. Die gleichzeitig neben der beruflichen Grundbildung zu erwerbende Berufsmaturität eröffnete den Weg zu den ebenfalls neu geschaffenen Fachhochschulen und ermöglichte, dass schweizerische berufsbildende Abschlüsse im europäischen Raum anerkannt wurden.

Grafik Gonon

Schweiz: Entwicklung der Abschlüsse Sekundarstufe II. Grafik: Philipp Gonon. Zahlen Sek II im Vergleich, siehe: Jane Ovelil und Lea Zehnder (2016).

Die Berufsbildung wurde nun deutlicher im Zusammenspiel mit anderen Bildungsbereichen gesehen. Diese gelte es zu flexibilisieren, um Barrieren abzubauen, hiess es. So beginne sich «eine Durchlässigkeit zwischen den einzelnen Bildungssystemen abzuzeichnen», die durch flexible gesetzliche Bestimmungen befördert werden sollte. Die «duale Berufsbildung» galt ab der Jahrtausendwende als «zentraler Pfeiler der schweizerischen Berufsbildung» und sollte durch ein neues Gesetz (BBG 2002) modernisiert und ausgebaut werden. Die Berufsbildung werde gerade dadurch gestärkt, dass sie in das gesamte Bildungssystem eingebettet sei.

Die Berufsbildung galt es auch deshalb zu stärken, weil in den 1990er-Jahren Wirtschaftskrise, höhere Arbeitslosigkeit und Lehrstellenknappheit herrschten. Entsprechend wurden dem Bund, den Kantonen und den Sozialpartnern mehr Mittel zugebilligt. Masnahmen zur Förderung von mehr Lehrstellen und Werbe- und Marketingkampagnen halfen, dass auch in der wirtschaftlichen Krisenzeit der 1990er-Jahre die Berufsbildung stabil gehalten werden konnte.

Renaissance der Berufsbildung

Tatsächlich erwies sich das duale Berufsbildungsmodell, das sich im Verlaufe  des 20. Jahrhunderts in der gesamten Schweiz zum dominanten Modell der Berufsbildung herauskristallisiert hatte, als wachstumsfähig. Aufgrund der nahezu ungebrochenen Aufwärtsbewegung und des beinahe einmütigen, öffentlichen Zuspruchs ist die Berufsbildung nach der obligatorischen Volksschule in seiner quantitativen Bedeutung zum gewichtigsten Bildungsbereich herangewachsen. Die duale Berufsbildung ist nicht nur die Basis für die Erlangung der Berufsmatur und den Weg zu den Fachhochschulen, sie bietet auch über die neu aufgewertete Höhere Berufsbildung Möglichkeiten, sich über Berufserfahrung und zusätzliche Kurse und Studiengänge weiterzuqualifizieren.

Grundlage dieser Entwicklung ist eine «Einverständnisgemeinschaft», die nur selten getrübt wurde. Die grossen Verbände und Parteien, die Forschung, die übrigen Bildungsinstitutionen und die Öffentlichkeit: Sie alle wollen eine starke Berufsbildung.

Im Unterschied zu anderen Ländern, in welchen die Bildungsexpansion zu einem einseitigen Wachstum der gymnasialen und hochschulischen Bildung führte, gelang es der Schweiz, auch die Berufsbildung zu stärken. Sie hat auf den Trend der Tertiarisierung und Ausbau der Hochschulstufe durch eine Kanalisierung des Bildungsausbaus via Berufsbildung reagiert. Sie hat dank einer starken dualen Berufsbildung auch international die höchste Beschulungsquote auf der Sekundarstufe II erreicht.

Bis anhin veröffentlichte Literatur mit Bezug auf die SNF-Studie

  • Gonon, Ph. & Zehnder, L. (2016). Die Berufsbildung der Schweiz als permanenter Kompromissbildungsprozess. In: Seyfried, J., Seeber, S. & Ziegler, B. (Hrsg.), Jahrbuch der berufs- und wirtschaftspädagogischen Forschung. Opladen: Barbara Budrich, S. 43-58.
  • Imdorf, Ch, Berner, E. & Gonon, Ph. (2016). Duale versus vollzeitschulische Berufsausbildung in der Schweiz. Zwei Institutionalisierungsmuster der beruflichen Bildung aus rechtfertigungstheoretischer und kantonal vergleichender Perspektive. In: Leemann, R. J., Imdorf, Ch., Powell, J.W. & Sertl, M. (Hrsg.), Die Organisation von Bildung. Soziologische Analysen zu Schule, Berufsbildung, Hochschule und Weiterbildung. Weinheim und Basel: Beltz, S. 186-207.
  • Gonon, Ph. (2016). Zur Dynamik und Typologie von Berufsbildungssystemen – eine internationale Perspektive. In Zeitschrift für Pädagogik, 62, 3, S. 307-322.
Zitiervorschlag

Gonon, P. (2016). Systematisch in die Berufsbildung investiert. Transfer. Berufsbildung in Forschung und Praxis 1(2).

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