Neues Buch im hep Verlag
Wie man mit den Flausen der Lernenden umgeht
Viele Lehrpersonen an Berufsfachschulen beklagen sich darüber, dass sich ihre Lernenden unangepasst verhalten oder den Unterricht stören. Der Umgang mit solchen Flausen gehört aber zu ihrem Berufsauftrag, sagen Esther Lauper und Michael De Boni. In ihrem neusten Buch «Ausgeflaust? – Jugendliche führen» zeigen die beiden Lehrerbildner, warum schwierige Situationen entstehen und wie man mit ihnen umgehen kann. Dazu gehört zum Beispiel eine gute Balance zwischen dem Beziehungs- und dem Ordnungsprinzip.
Auf dem Umschlag Ihres Buches ist ein Klassenzimmer zu sehen, an dessen Tischen Hunde sitzen. Sind Lernende Wesen, die bellen und beissen?
Esther Lauper (lacht) Ich habe mich selber über die Bildidee unseres Projektleiters gewundert. Aber als wir die Hunde ins Klassenzimmer setzten und fotografierten, entdeckte ich Ähnlichkeiten mit einer richtigen Klasse: Da sitzen welche, die total aufpassen, andere schlafen, dritte schauen zum Fenster hinaus. Diese Gruppe muss man managen. Man muss dafür sorgen, dass sie aufmerksam ist. Zudem sieht sie nur vordergründig einheitlich aus. Wenn man genau hinschaut, sehen wir lauter Individuen.
Niemand, der bellt und beisst?
Michael De Boni Nein, diesen Aspekt will das Bild nicht ansprechen. Auch nicht die Idee, dass man Lernende wie Hunde dressieren müsste.
Aber der Titel «Ausgeflaust» weist darauf hin, dass da Lernende sitzen, die nerven können.
De Boni Das ist schon richtig. Der Titel knüpft an das Buch «Nur Flausen im Kopf – Jugendliche verstehen» an, in dem wir – unter anderem auf der Basis der Erkenntnisse der Neurowissenschaften – die Stürme beschreiben, die Jugendliche in ihrer Adoleszenz durchlaufen. Unser neues Buch versucht zu zeigen, wie sich diese Flausen im Unterricht bemerkbar machen und wie Lehrpersonen konstruktiv und kreativ damit umgehen können. Bei diesem Vorgehen können die Anpassungsleistungen der Jugendlichen unterstützt und die Erwachsenenkompetenzen gefördert werden.
Lehrende haben nicht nur einen Stoff-Vermittlungsauftrag, sondern auch eine Erziehungsaufgabe.
Lauper Viele Lehrpersonen glauben, Lernende mit 16 sollten wissen, was sich gehört. Aber das ist nicht so. Die Hirnentwicklung ist erst im Alter von 25 abgeschlossen. Wenn Jugendliche in die Berufsbildung einsteigen, liegen noch enorme Veränderungen vor ihnen. Sie bringen aus der Pubertät Verhaltensweisen mit, die sie langsam ablegen müssen. Das braucht Zeit und Anregung. Wir versuchen, Verständnis dafür zu wecken und mit einem Augenzwinkern zu zeigen, wie Anpassungsleistungen eingefordert werden können. Das klappt nicht immer auf Anhieb. Wenn Gruppenarbeiten zum sozialen Faulenzen mutieren, Hausarbeiten nicht gemacht werden, bei Prüfungen abgeschrieben wird oder der Lehrperson reingeredet wird, dann sind dies Verhaltensmuster, die nach und nach abgelegt und durch passendere ersetzt werden sollten. Mit diesen Herausforderungen müssen sich Lehrpersonen auseinandersetzen, in den Berufsfachschulen, aber auch an Gymnasien und sogar an Fachhochschulen. Lehrende haben nicht nur einen Stoff-Vermittlungsauftrag, sondern auch eine Erziehungsaufgabe.
Das klingt fast versöhnlich. Aber etliche Kapitel in Ihrem Buch behandeln Störungen, Konflikte, Interventionen.
De Boni Der Hunger nach solchen Themen ist sehr gross. In unserer Tätigkeit in der Lehrerbildung sind wir ständig mit Fragen konfrontiert wie: Wie motiviere ich lustlose, unmotivierte Lernende? Wie baue ich eine Vertrauensbasis auf und führe die Lernenden in die Kooperation? Wie vermeide oder löse ich Konflikte auf möglichst positive Weise? Wie gehe ich mit schwierigen Situationen um? Welche Erziehungsarbeit muss ich bei jungen Erwachsenen noch leisten? Wie verhalte ich mich beratend, wenn ein Lernender mit einem persönlichen Problem zu mir kommt? Unser Buch möchte einen Beitrag leisten, damit solche Situationen in fördernde Lerngeschichten münden. Wir zeigen, wie man Jugendliche führen kann – ohne autoritär zu werden.
Lauper Auch Lernende beklagen sich über Unterrichtsstörungen. An einer Tagung gaben Jugendliche einstimmig zu Protokoll, der meiste Stress komme durch ständige Unterbrechungen zustande – und nicht etwa durch Leistungsdruck, Prüfungen oder Angst vor bestimmten Personen. Wir zeigen, wie Störungen zustande kommen und wie Lehrpersonen damit umgehen können. Eine Idee ist etwa, Gruppenarbeiten erst dann anzusetzen, wenn Partnerarbeiten gut funktionieren. Ebenso ist die Rhythmisierung des Unterrichts mit angeordneten Unruhephasen der sozialen Interaktion und Bewegung im Wechsel mit stillem Arbeiten sehr wirksam. Auch Rituale tragen zur Störungsminimierung bei. Eine meiner Studentengruppen hat mit Berufslernenden im Rahmen eines kleinen Projekts die Vereinbarung getroffen, dass sie für ihre Hausaufgaben weniger Zeit einsetzen sollten, diese aber ohne Unterbrechung erledigen. Das Ergebnis war verblüffend: Die Leistungen der Jugendlichen verbesserten sich sprunghaft.
An einer Tagung gaben Jugendliche einstimmig zu Protokoll, der meiste Stress komme durch ständige Unterbrechungen zustande.
Ist Unterrichten schwieriger geworden als vor 30 Jahren?
Lauper Nein. Aber die Herausforderungen verändern sich. In den 80er-Jahren waren die Jugendlichen rebellischer; sie stellten die Lehrpersonen oft in Frage. Heutige Lernende tun das kaum mehr. Dafür können sie sich nicht mehr so gut konzentrieren und haben eine geringere Impulskontrolle. Jede Generation bringt neue Herausforderungen und neue Potenziale mit.
De Boni Zudem haben auch wir Lehrpersonen uns mit unseren Werten und unserem Rollenverständnis verändert. Die Neurowissenschaften haben uns gelehrt, dass die Hirnentwicklung mit all den steuernden und kontrollierenden Mechanismen bis weit ins junge Erwachsenenalter hinein dauert. Das verändert unseren Blick auf das, was wir in unserem Buch «Flausen» nennen. Wir können als Lehrpersonen gelassener mit Situationen umgehen, in denen sich unsere jungen Erwachsenen manchmal noch wie «Kindsköpfe» benehmen, wie das einmal ein Kursteilnehmer formuliert hat. Zugleich verpflichtet es uns, eine gut strukturierte Umgebung mit entsprechenden Grenzen und Orientierung zu schaffen, damit die Jugendlichen Erwachsenenkompetenzen entwickeln können. Hier verzahnen sich fachdidaktische Vorbereitung und Erziehungsauftrag.
In Ihrem Buch beschreiben Sie zwei Prinzipien des Unterrichtens: Das Ordnungs- und das Beziehungsprinzip. Welcher Gedanke steckt in diesen Begriffen?
Lauper Ich habe in meiner Tätigkeit in der Lehrerbildung ein Modell entwickelt, das auf vier Säulen oder menschlichen Strebungen basiert: der Sehnsucht nach Ordnung, nach Liebe, nach Erkenntnis und nach Autonomie. Ich glaube, dass die menschliche Seele der Menschen nach diesen Prinzipien sucht. In unserer Bildungsarbeit und im Buch haben wir dieses OLEA-Modell auf die beiden Begriffe Ordnung und Beziehung reduziert. So kann man erst mal sagen, dass Lehrpersonen nach dem Beziehungsprinzip oder nach dem Ordnungsprinzip handeln. Sie können in gleichen Situationen eher für Ordnung sorgen und an Regeln erinnern oder über das Gespräch die Beziehung pflegen. Sinnvoll aber wäre, dass eine Lehrperson die Balance zwischen den beiden Prinzipien sucht. Zu viel oder zu wenig Beziehung schadet ebenso wie zu viel oder zu wenig Führung.
Können Sie eine Situation dafür schildern?
Lauper Ein Jugendlicher kommt mehrfach zu spät. In der Ordnungsorientierung weist man auf den Regelverstoss hin und droht für den Wiederholungsfall mit Sanktionen. Wer ausschliesslich so vorgeht, schafft ein repressives Klima oder Angst sowie Dienst nach Vorschrift. Als Folge geht die Leistung zurück. In der Beziehungsorientierung sucht die Lehrperson im persönlichen Gespräch nach gemeinsamen Lösungen und hofft, damit Wohlverhalten zu erzeugen. Zu einseitig angewendet, kann dieses Vorgehen zu emotionalen Verstrickungen führen; Sanktionen erfolgen dann über den Entzug von Zuwendung, vielleicht sogar über Schuldzuweisungen – «Sie sind schon wieder zu spät, jetzt bin ich traurig». Dieses inkonsequente Handeln führt zu vermehrten Konflikten und fördert sogar den sozialen Ausschluss.
Lehrpersonen können in gleichen Situationen eher für Ordnung sorgen und an Regeln erinnern oder über das Gespräch die Beziehung pflegen.
De Boni Das Ordnungs- und Beziehungsprinzip ist ein einfaches und hilfreiches Instrument, das sich in der Lehrerbildung bewährt hat. Es hilft Lehrpersonen, lenkend auf Unterrichtsprozesse einzuwirken und ihr eigenes Verhalten besser zu analysieren. In unserem Buch finden sich viele Modelle, Instrumente oder Tabellen, die sich als Handlungsvorschläge verstehen, die von den Lehrperson unmittelbar umgesetzt werden können. Wir glauben an die Wirkung der vielen kleinen Schritte hin zur Professionalisierung. Wenn beispielsweise in einer Klasse die Aufgabendisziplin massiv zusammenbricht, kann sich eine Lehrperson auf den Standpunkt stellen, dass die Lernenden erwachsen genug sind und keine Führung nötig haben. Das führt vermutlich zu weiteren Regelverstössen. Sie kann aber auch Ordnung gebend die Kontrolle der Aufgaben ankündigen und notenwirksame Sanktionen androhen. Oder sie setzt sich hin und versucht gemeinsam mit der Klasse, das Problem zu bewältigen. Vielleicht mündet das Gespräch in einen Aushandlungsprozess, der kontrollierte Ausnahmen wie «Joker» zulässt und so die Selbstbestimmung und die Selbstverantwortung der Lernenden fördert.
Lauper Erstaunlich ist, dass am meisten Konflikte in Systemen entstehen, in denen der Beziehungsaspekt zu stark gelebt wird. Kurzabsenzen, Fluktuationen, Krankentage – solche Phänomene sind häufiger in allzu beziehungsorientierten Führungskulturen. Letztlich sollten die beiden Prinzipien Beziehungs- und Führungs-Orientierung im Verlauf der Berufslehre durch die zwei weiteren Prinzipien abgelöst werden, die ich genannt habe: Erkenntnissuche – und damit Selbststeuerung über den Weg der Reflexion und Einsicht – und die Entwicklung von Autonomie und Verantwortungsübernahme. Lernende sollten dann mehr und mehr interessegeleitet und selbstbestimmt lernen.
Welches sind die häufigsten Irrtümer, denen junge Lehrpersonen unterliegen?
Lauper Ich möchte statt von Irrtümern eher von Überraschungen sprechen, die sie erleben. Viele junge Lehrpersonen sind besetzt vom Stoff, den sie vermitteln, und haben noch nicht die Ressourcen wahrzunehmen, was sonst alles noch im Schulzimmer läuft. Sie sind dann von der Dynamik überrascht, die sich entwickeln kann. Viele Studenten müssen sich auch mit der Vorstellung abfinden, dass sie einen pädagogischen Auftrag haben und staunen darüber, wie unreif Jugendliche zumindest am Anfang der Ausbildung sein können. Manche Studenten haben vor Beginn des Studiums noch nie richtig Einblick in ein Unterrichtsgeschehen genommen. Ich wünsche mir, es würden vor oder während der Ausbildung mehr Klassenbesuche gemacht. Als ich in die Ausbildung begann, war sogar ein Gewerbe- und Industriepraktikum vorgeschrieben. Wir erlebten während vier Wochen, wie es sich anfühlt, Lehrling zu sein.
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* Esther Lauper ist seit über 30 Jahren in der Lehrerbildung auf Sek.II-Stufe tätig und hat selber 25 Jahre lang an Berufsfachschulen unterrichtet. Sie ist derzeit Dozentin im Team Erziehungswissenschaften an der PHZH Sek II. Daneben arbeitet sie als Organisationsentwicklerin und Supervisorin BSO. Seit 2000 führt sie das von ihr gegründete Institut für Neues Lernen GmbH in Wallisellen.
Michael De Boni war bis vor kurzem Dozent für Erziehungswissenschaften an der Pädagogischen Hochschule Zürich und ABU-Lehrer. Zu seinen Themenschwerpunkten gehören Konfliktmanagement, Adoleszenz und neurobiologische Aspekte des Lehrens und Lernens.
Zitiervorschlag
Fleischmann, D. (2017). Wie man mit den Flausen der Lernenden umgeht. Transfer. Berufsbildung in Forschung und Praxis 2(2).