Berufsbildung in Forschung und Praxis
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Replik zum Interview zum Bildungsbericht 2023 mit Stefan C. Wolter

«Ein Bedrohungsszenario ist nicht angebracht»

Die Berufsbildung verliert an Terrain. Mit dieser Schlagzeile kommentierte Stefan C. Wolter den unter seiner Leitung entstandenen Bildungsbericht 2023 und macht dafür die FMS verantwortlich. In einer Replik argumentieren drei Forscherinnen der Pädagogischen Hochschule Nordwestschweiz unter der Leitung von Regula Julia Leemann, diese Darstellung der Fachmittelschule durch Wolter greife zu kurz. Sie ignoriere den Beitrag der FMS zum Fachkräftemangel und sei unvollständig und irreführend. Zudem passe die von Wolter geforderte Kontingentierung der Bildungsangebote nicht zur liberal-demokratischen Gesellschaftsordnung der Schweiz.


Professor Wolter erläutert und interpretiert im Interview mit Transfer Entwicklungen bei der Ausbildungswahl auf Sekundarstufe II, auf die wir mit unserer Replik in drei Punkten reagieren möchten.

1. Gemäss Einschätzung von Herrn Wolter trägt die Fachmittelschule zur «Erosion der Berufsbildung» bei, da sie sich «immer besser als Zubringer in die Gesundheitsberufe oder an die Pädagogischen Hochschulen» etablieren würde. Diese Aussage ist doppelt irritierend. Zum einen ist es ein erfreuliches Ergebnis, dass die Fachmittelschule gerade in diesen Berufsfeldern, die unter einem akuten Mangel insbesondere von tertiär gebildeten Fachkräften leiden, einen Ausbildungsbeitrag leistet. Unsere eigenen Analysen verweisen in diesem Zusammenhang darauf, dass im Berufsfeld Gesundheit die Fachmittelschule einen höheren Anteil von jungen Menschen in die Tertiärbildung führt, wenn mit der beruflichen Grundbildung verglichen wird. Ebenso hat sich die Fachmittelschule mit Berufsfeld Pädagogik nach Auflösung der auf Sekundarstufe II angesiedelten seminaristischen Konzeption der Lehrerinnenbildung zu einem zentralen Zubringer zur Pädagogischen Hochschule entwickelt. Zum anderen tragen diese rund 35% der Schülerinnen und Schüler mit Fachmaturität Pädagogik nicht «zur Erosion» der Berufsbildung bei, da sie den Beruf der Lehrperson ergreifen wollen. Dass die restlichen Absolvierenden der Fachmittelschule für das Bedrohungsszenario der «Erosion der Berufsbildung» verantwortlich sind, bezweifeln wir angesichts des geringen Anteils an Fachmittelschülerinnen und -schülern. Da nach wie vor rund zwei Drittel der Jugendlichen den Weg der beruflichen Grundbildung einschlagen, ist dieser nach wie vor der dominante Bildungsweg. Ein Bedrohungsszenario ist deshalb nicht angebracht.

Die Darstellung der Fachmittelschule durch Herrn Wolter ist unvollständig und irreführend.

2. Die Darstellung der Fachmittelschule durch Herrn Wolter ist unvollständig und irreführend. Nur die Fachmaturitat Pädagogik berechtigt zum Studium an einer Pädagogischen Hochschule – und dies auch nur für den Beruf der Lehrperson Kindergarten und Primarstufe –, da sie einen zusätzlichen Anteil an Allgemeinbildung umfasst. Für den Studiengang der Sekundarstufe I und mit einer anderen Fachmaturität müssen die Absolventinnen und Absolventen eine Ergänzungsprüfung bestehen oder die Passerellenprüfung absolvieren, genauso wie dies für die Absolvierenden einer Berufsmaturität verlangt wird.

Die Fachmittelschule ist zwar institutionell dem allgemeinbildenden Pfad zugeordnet, von ihrem Ausbildungsziel her jedoch eine berufsfeldvorbereitende Schule, da die Jugendlichen ein Berufsfeld (Gesundheit, Soziale Arbeit, Pädagogik, Musik & Theater, Gestaltung & Kunst, Kommunikation & Information) wählen müssen. In der Ausbildung sind berufsfeldspezifische Bildung, betriebliche Erfahrung und berufliche Sozialisation integriert, jedoch in geringerem Umfang als in der Berufslehre. Damit unterscheidet sich die Fachmittelschule vom Gymnasium und kann als hybrider Ausbildungsweg zwischen Allgemeinbildung und Berufsbildung charakterisiert werden. Erfahrungen im zukünftigen Beruf sammeln die Jugendlichen auf Tertiärstufe, indem sie nach drei oder vier Jahren Fachmittelschule fachbezogen in eine tertiäre berufliche Ausbildung wechseln.

3. Herr Wolter plädiert für eine stärkere bildungspolitische Steuerung zum Schutz der Berufslehre, indem er rät, die Zahl der Fachmittelschulen stärker zu beschränken. Damit soll die Auswahl für die Schülerinnen und Schüler zwischen den beiden Bildungswegen zugunsten des einen Angebots eingeschränkt werden. Zwei Kommentare hierzu.

Die liberal-demokratische Gesellschaftsordnung der Schweiz basiert auf dem Grundsatz, dass Begabung und Neigung der Individuen die Basis für die Ausbildungswahl sein sollen. Eine Kontingentierung der Ausbildungsplätze ist deshalb problematisch.

(1) Die liberal-demokratische Gesellschaftsordnung der Schweiz basiert auf dem Grundsatz, dass Begabung und Neigung der Individuen die Basis für die Ausbildungswahl sein sollen. Die drei Bildungswege – berufliche Grundbildung, Fachmittelschule und Gymnasium – decken unterschiedliche Interessen, Kompetenzen, biografische Umstände und Lebenspläne der Jugendlichen ab. Eine Kontingentierung der Ausbildungsplätze – insbesondere, wenn es systemrelevante Bereiche betrifft, bei denen die Fachkräfte fehlen – ist deshalb problematisch.

(2). Gerade die Konkurrenzsituation der drei Bildungswege bei schulleistungsstarken Jugendlichen gewährleistet, dass sich die Verantwortlichen für die Qualität des jeweiligen Bildungsweges und dessen Potenzial und Zukunftschancen einsetzen. Eine attraktive berufliche Bildung, die dieselbe Qualität, Chancen und Sicherheiten bietet wie eine Fachmittelschule, muss diese Konkurrenz nicht fürchten.

Zitiervorschlag

Leemann, R. J., Esposito, R. S., & Hafner, S. (2023). «Ein Bedrohungsszenario ist nicht angebracht». Transfer. Berufsbildung in Forschung und Praxis 8(1).

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