Zur Reform Kaufleute 2022
Grundlegender Konstruktionsmangel
Das SBFI hat nach diversen Interventionen die Einführung der neuen Bildungsverordnung im Beruf Kaufleute EFZ um ein Jahr auf 2023 verschoben. Das gibt Zeit, noch einmal über die Reform nachzudenken. So formuliert Rolf Dubs Überlegungen zu grundsätzlichen Konstruktion des Lehrplans. Er vermisst, dass in der Revision überhaupt nicht definiert werde, welches Wissen angehende Kaufleute in ihrer beruflichen Grundbildung erwerben sollen. Ohne dieses konstitutive Element bleibe die Reform trotz aller guten Ansätze vage.
Angesichts des raschen Wandels müssen Lehrpläne regelmässig überarbeitet werden. Mit der Lehrplanentwicklung verbunden ist immer wieder die Streitfrage, ob Neuerungen auf neue pädagogische Theorien ausgerichtet oder ob lediglich herkömmliche Vorstellungen des Bisherigen überarbeitet werden müssen. Solange diese Frage nicht geklärt ist, stösst jeder Lehrplanentwurf gleich zu Beginn der Reformarbeiten auf viel Kritik. Dies ist gegenwärtig auch beim Bildungsplan und seinem Umsetzungskonzept für den kaufmännischen Beruf der Fall. Die Expertengruppe entschied sich für die erste Variante und legte ein Konzept mit fünf Handlungskompetenzbereichen vor, das auf die herkömmliche Fächerorganisation verzichtet. Diese Neuerung wurde sehr sorgfältig erarbeitet; viele Lehrpersonen und Leute aus der Wirtschaft kritisieren sie aber oder lehnen sie ganz ab.
Zu oft zeigt sich, dass neue Lehrpläne scheiterten, weil die Nachteile übersehen wurden.
Leider ist es weltweit erst sehr selten gelungen, die Richtigkeit neuer Lehrplanansätze und deren Wirksamkeit empirisch zu belegen, da vor allem die Wertvorstellungen (etwa über die Rolle der Lehrperson) und die pädagogischen Zusammenhänge komplexer werden. Deshalb müssen Entscheide weitgehend argumentativ erfolgen. Dies geschieht auch in diesem Beitrag. Dazu werden zwei Beurteilungskriterien angelegt. Erstens werden Teile des Lehrplanentwurfes mit einem Satz des deutschen Pädagogen Eduard Spranger (1882-1968) betrachtet, wonach es in der Pädagogik nichts gebe, was nicht auch Nachteile habe; denn zu oft zeigt sich, dass neue Lehrpläne scheiterten, weil die Nachteile übersehen wurden. Zweitens wird zu klären sein, ob die grundlegenden Ziele des neuen Lehrplans auf ein zukunftsträchtiges Berufsbild ausgerichtet sind und von den Betroffenen akzeptiert werden. Mit Hilfe dieser zwei Betrachtungsweisen werden in diesem Beitrag die Inhalte des Bildungsplans und dessen Umsetzungskonzept für die neue kaufmännische Berufslehre besprochen. Begonnen wird mit dem Berufsbild.
Das Berufsbild verweist sehr treffend auf die dienstleistungsorientierte Ausbildung der Lernenden und ist gut dargestellt. Allerdings fehlen für die Zukunft der kaufmännischen Grundbildung Annahmen über die Entwicklung des Lernens und die künftige Bedeutung des Wissens beim Lernen. Es scheint – und hier ist an die Sentenz von Spranger zu erinnern –, dass im Lehrplanentwurf dem systematischen Lernen mit klaren Wissensstrukturen und der Bedeutung der Lernformen keine grosse Bedeutung mehr geschenkt wird. Das hat entscheidende Auswirkungen auf die Gestaltung des Unterrichtes.
Ob die Vernachlässigung dieser beiden Aspekte zukunftsgerecht ist, wird hier bezweifelt. Mit grosser Wahrscheinlichkeit wird ein gut strukturiertes Grundlagenwissen, das in einem anfänglich angeleiteten Unterricht erworben wurde, für das Verständnis von Neuem zunehmend bedeutsamer. Einerseits steigen die Ansprüche der beruflichen Weiterbildung, so dass dazu vermehrtes Wissen vorausgesetzt wird (z.B. stete Weiterbildung an Fachhochschulen). Und andrerseits sind es die Fortschritte der Informatik, welche nicht nur die Arbeit erleichtern, sondern auch immer mehr Wissen erfordern, weil der technische Fortschritt laufend neues Wissen voraussetzt und damit zu neuen Lernansprüchen führt.
Das Berufsbild
Ausgangspunkt zur neuen Gestaltung der Lehrplanrevision sollte die Frage zum heutigen Stellenwert des Wissens sein, dessen Bedeutung für das Lernen wissenschaftlich schon seit langem erkannt ist. Ohne gut strukturiertes Wissen (verstandenes Wissen mit einer gut organisierten Wissensbasis als Voraussetzung) lässt sich kein guter Lernerfolg erzielen. Die Wissenserarbeitung (nicht das Auswendiglernen und die Wissenspaukerei) bleibt von grosser Wichtigkeit für das Lernen. Auch die Illusion, Wissen könne dank neuer Möglichkeiten (Abruf aus digitalen Instrumenten, selbstgesteuertes Lernen) ohne angeleiteten Unterricht erfolgen, mindert die Bedeutung des Wissens beim Lernen nicht. Dies ist wissenschaftlich belegt. Deshalb ist im Sinne von Spranger zu überlegen, ob Lehrpläne auf Basis von Handlungskompetenzen und ohne angemessene, vernetzte Wissensgrundlagen nicht auch Nachteile haben.
Dazu lassen sich zwei kritische Anmerkungen anführen.
- Erstens werden in den Handlungskompetenzbereichen A und B des Lehrplanentwurfes viele Leistungsziele vorgeschlagen, die die Auszubildenden bei Beginn der Lehre wenig motivieren, weil sie als Anfänger in der Kaufmannstätigkeit noch zu wenig Bezug zu ihrer künftigen Tätigkeit und dem entsprechenden Lernen haben. Zwei Beispiele: «Sie (die Lernenden) formulieren messbare Zielsetzungen für die Weiterentwicklung ihrer Kompetenzen»; oder «sie zeigen messbare Zielsetzungen für die Weiterentwicklung ihrer Kompetenzen». Hier könnte das Gleiche geschehen wie vor Jahren mit dem wissensunabhängigen «Lernen lernen», das in vielen Situationen (nicht in allen) erst in Kombination mit vorhandenen Wissensbeständen zu Lernerfolgen führte.
- Zweitens werden wertvolle und wichtige Leistungsziele vorgelegt, die sehr viel Wissen voraussetzen. Andernfalls kommt es zu punktuellem Lernen, das gefährlich ist, weil das Lernen oberflächlich bleiben kann. «Sie (die Lernenden) interagieren in kaufmännischen Kommunikationssituationen mit interkulturellen Unterschieden im Team adressatengerecht.» Dieses Leistungsziel erfordert sehr viel Wissen aus verschiedenen Lernbereichen, das häufig nicht zeitgerecht zur Verfügung steht. Deshalb besteht die Gefahr von Halbheiten des Lernens, der Verstärkung des Auswendiglernens und einer wenig sinnvollen Wissenspaukerei. Mit einem Unterricht in Fächern entfallen diese Probleme, wenn Leistungsziele mit genügendem Vorwissen unterrichtet werden.
Diese zwei Nachteile sprechen trotz interessanten Leistungszielen mindestens in einem Teil (etwa in den ersten Semestern der beruflichen Grundbildung) für eine Fächerorientierung des Lehrplans.
Kompetenzbegriffe und Taxonomie
Mit solchen Vorgaben erfüllt der Lehrplanentwurf die wichtige Aufgabe der intellektuellen Förderung der Lernenden nicht genügend.
Die Handlungskompetenzbereiche und Handlungskompetenzen sowie die Leistungsziele sind in allgemeiner Form gut beschrieben. In den fachbezogenen Bereichen Betriebswirtschaftslehre und Recht erscheinen sie aber nahezu als Inhaltslisten. Ansätze zu kognitiv anspruchsvolleren Leistungszielen fehlen in beiden Bereichen. Zwei Leistungsziele zum Aspekt Recht mögen dies zeigen: «Sie (die Lernenden) zeigen den Aufbau einer Erfolgsrechnung und einer Bilanz auf» und «Sie erläutern die zentralen Elemente von gängigen Verträgen (Einzelarbeitsvertrag…) und weiteren rechtlichen Grundlagen». Mit solchen Vorgaben erfüllt der Lehrplanentwurf die wichtige Aufgabe der intellektuellen Förderung der Lernenden nicht genügend. Vermutlich ist dies darauf zurückzuführen, dass die Taxonomie (hierarchischer Aufbau von Kompetenzen mit steigenden Kategorien des Anspruchsniveaus des Lernens) trotz der Erklärungen im Bildungsplan nicht systematisch beachtet wurde. Ein Beispiel möge dies zeigen: Das vorliegende Leistungsziel steht auf der Stufe 1 der Taxonomie (Wissen). Ein neues Leistungsziel könnte wie folgt aussehen: «Sie entwerfen einen idealen Einzelarbeitsvertrag für einen Sekretär Ihres Betriebes und lassen ihn durch eine Mitschülerin überprüfen» (Stufe 5 Synthese der Taxonomie und Stufe 6 Beurteilen). Die Taxonomie ist seit Jahren ein wichtiges Merkmal für die Differenzierung des Niveaus von gutem Unterricht und trägt wesentlichen zur zielgerichteten Vielgestaltigkeit der Ansprüche für Prüfungen bei. Der Einsatz der Taxonomie sollte im Lehrplan mehr Bedeutung haben. Die gelegentlich vorgetragene Meinung, man könnte dies den Lehrpersonen überlassen, ist fragwürdig, denn damit ginge ein wichtiges Merkmal aussagekräftiger Prüfungen verloren.
Interdisziplinarität des Lehrplanes
Behauptet wird oft, dass ein fächerorientierter Unterricht weniger Möglichkeiten für einen interdisziplinären Unterricht bietet als ein Lehrplan mit Handlungskompetenzbereichen. In absoluter Form gilt diese Feststellung nicht. Entscheidend sind im Fortgang des Unterrichts Fächerkombinationen in einer vielseitigen Form. Empirisch ist seit vielen Jahren belegt, dass in einer Anfangsphase ein guter fächergebundener dialogischer Frontalunterricht lernwirksam ist. Insbesondere schwächere Lernende lernen im beginnenden Frontalunterricht in Fächern mehr als mit E-Learning oder selbständigem Lernen. Aber es ist zwingend, dieses anleitende Lernen im Fortgang des Unterrichts in Fächern erweiternd interdisziplinär zu ergänzen, sei es in den bestehenden Fächern oder in interdisziplinären neuen Fächern, wie sich dies vor vielen Jahren mit sogenannten Integrationsfächern an KV-Schulen bewährt hat. Solche Kombinationen im fortgeschrittenen Unterricht wären im vorliegenden Lehrplanentwurf problemlos umsetzbar, denn viele Handlungskompetenzen eigneten sich vorzüglich für einen interdisziplinären Unterricht, selbst wenn man zu Fächern zurückkehren würde. Als Beispiel: Die Handlungskompetenz mit dem vorgegebenen Leitziel «Sie wenden Konfliktlösestrategie im Team an» böte viele interdisziplinäre Lernmöglichkeiten, sofern ein genügendes Wissen vorliegt.
Fehlende Lernbereiche
Volkswirtschaftliche Themen werden in den Leitzielen nur noch punktuell angesprochen, was aus zwei Gründen unverständlich ist. Erstens betreffen volkswirtschaftliche Fragen viele kaufmännisch Tätige in zunehmendem Masse, z.B. die Folgen der Konjunktur oder wirtschaftliche und politische Ordnungsfragen und ihre Konsequenzen für die Unternehmungen. Deshalb gehören sie strukturiert als Wirtschaftsbürgerkunde in jeden kaufmännischen Lehrplan. Zweitens wächst die Meinungspolarisierung bei wirtschaftlichen und politischen Fragen auch in unserem Land. Um sie und die Verschwörungstheorien, die unser Land beschädigen, zu bekämpfen, ist volkswirtschaftlicher Unterricht im Sinne der demokratischen Bildung im Rahmen einer Wirtschaftsbürgerkunde zwingend. Deshalb darf er im Lehrplan nicht einfach gestrichen werden. Drittens sollte die Ausbildung in Muttersprache verstärkt werden. Deren Schwächen in der Schweiz sind in den PISA-Untersuchungen bestätigt und erfordern die systematische sprachliche Fortbildung auch für den Kaufmannsberuf. Allerdings sollte dies keine traditionelle Geschäftskorrespondenz mehr sein.
Wie weiter?
Ich bin der Überzeugung, dass der Übergang der Gliederung des Lehrplanes auf Handlungskompetenzbereiche und nicht auf Fächer in der vorliegenden, absoluten Form unglücklich ist.
Die bisherigen Arbeiten zur Entwicklung der Handlungskompetenzen und der Leistungsziele verdienen Anerkennung. Aber ich bin der Überzeugung, dass der Übergang der Gliederung des Lehrplanes auf Handlungskompetenzbereiche und nicht auf Fächer in der vorliegenden, absoluten Form unglücklich ist. Anzustreben sind für den Anfangsunterricht Fächer zur Sicherstellung eines strukturierten Grundlagenwissens, das nach einer gewissen Zeit durchaus mit vielen der vorliegenden Handlungskompetenzen ohne Fächer erweitert werden kann. Dies erforderte eine nochmalige Bereinigung des Lehrplanentwurfes. Zudem wird die Einführung des neuen Lehrplanes für die Lehrerfortbildung sehr aufwändig, weil vieles für die Lehrpersonen noch wenig klar ist. Aufgrund erster Reaktionen meine ich, dass aber sofort an jeder Schule eine Lehrperson auszubilden ist, welche die Verantwortung für die Umsetzung des Lehrplanes übernimmt. Dazu sollten die Konstrukteure des Lehrplanes eine Anleitung vorlegen. Zu vermeiden sind aus meiner Sicht viele und lange Sitzungen, in denen Nichtwissen, Kritik und Dogmen vorherrschen. «Jetzt ist die Zeit gekommen, in der wir Lehrpersonen endlich nur noch Coaches sind, und die Lernenden grösstenteils nur noch selbstständiges, vornehmlich digitales Lernen einsetzen können», hörte ich kürzlich. So etwas ist Unsinn.
Rolf Dubs: Langjähriger Einsatz für die Berufsbildung
Rolf Dubs war einer der ersten, der reines Faktenwissen durch die Orientierung an Lernzielen und Kompetenzen ersetzte.
Rolf Dubs war zwischen 1969 und 2000 Direktor für Wirtschaftspädagogik an der Universität St.Gallen. Er hat wie kaum eine andere Persönlichkeit die Entwicklung der schweizerischen Berufsbildung geprägt. Aus diesem Grund wurde ihm 2007 eine Würdigung durch die Bundesverwaltung in Form der Broschüre «Rolf Dubs‘ Beitrag zu Schweizer Bildungsinnovationen» zuteil – eine aussergewöhnliche Geste des Amtes zum einen und zum anderen ein wichtiges Dokument, das die Vielfalt der Verdienste von Dubs nachvollziehbar macht. So hat Dubs 1978 ein Grundsatzdokument zur Lehrplanentwicklung an gewerblichen Berufsschulen in der Schweiz entwickelt und damit, so Ursula Renold in ihrem Beitrag in der erwähnten Broschüre, «den Grundstein für eine ganze Generation von Berufsreglementen» gelegt. Dubs war zudem einer der ersten Pädagogen, der junge Berufslernende anhand von authentischen Fallbeispielen aus der Praxis im interdisziplinären und prozessorientierten Denken bilden wollte und – vor allem in der Unterrichtsforschung – von Lernzielen und Kompetenzen (kompetenzorientierte Lernziele) sprach.
Zitiervorschlag
Dubs, R. (2021). Grundlegender Konstruktionsmangel. Transfer. Berufsbildung in Forschung und Praxis 6(3).