Vier Themen, die uns beschäftigen sollten
Herausforderungen für die Berufsbildung in ungewissen Zeiten
Seit einiger Zeit sind die Berufsbildungssysteme mit einem Umfeld konfroniert, das sich so rasch und tiefgreifend verändert wie nie zuvor. Die Zukunft ist voller Ungewissheiten. Um den Unternehmen weiterhin zu ermöglichen, wettbewerbsfähig zu sein und den Menschen Wege zu eröffnen, sich in der Arbeitswelt zu entfalten, müssen sich diese Systeme neuen Aufgaben und Herausforderungen stellen. Im Rahmen der seiner vorliegenden Überlegungen ermittelt Grégoire Évéquoz vier zentrale Themen – darunter das Berufskonzept.
1. Obsoleszenz von Kompetenzen
Zu verhindern ist, dass die Menschen am Ende ihrer Ausbildung mit Kompetenzen dastehen, die den Bedürfnissen des Arbeitsmarktes nicht mehr entsprechen.
Technologische Entwicklungen sind nichts Neues und seit den ersten industriellen Revolutionen bekannt. Beispiellos ist jedoch die Geschwindigkeit, in der diese erfolgen. Das Mooresche Gesetz[1], das sich auf die Entwicklung von Computern bezieht, besagt, dass sich die Geschwindigkeit und die Informationsspeicherkapazität von Computern alle zwei Jahre verdoppeln. Dieser exponentielle Anstieg der Rechenleistung, der seit sechzig Jahren in Gang ist, fördert eine Dominanz der Digitalisierung.
Dabei wird es nicht bleiben. Denn mit der Entwicklung verbunden ist die Frage, wie sich Form und Inhalte der neuen Technologien auf unsere Art zu leben, zu arbeiten, zu produzieren und uns weiterzubilden auswirken. Die Geschwindigkeit, mit der sich neue Technologien entwickeln und unser Umfeld verändern, wirft ein Phänomen auf, das es für die Bildungssysteme zu analysieren gilt: Die Rede ist von der Obsoleszenz der Kompetenzen, also der Tatsache, dass erworbene Qualifikationen veralten. 1988 betrug die durchschnittliche Lebensdauer einer technischen Kompetenz laut OECD[2] 30 Jahre. Heute liegt sie bei zwei Jahren. Diese Obsoleszenz betrifft zwar zunächst die technischen Berufe, wird sich aber natürlich in allen Bereichen niederschlagen und die Praxis aller Berufe direkt oder indirekt beeinflussen.
Zur Erinnerung: Im Schweizer Berufsbildungssystem müssen laut Bundesgesetz, das vor bald 20 Jahren in Kraft trat[3], die Bildungsverordnungen, die den Beruf und die verschiedenen Qualifikationen beschreiben, die gelehrt und erworben werden müssen, alle fünf Jahre überarbeitet werden. Diese Revisionen sind für die jeweils dafür verantwortlichen Berufsverbände oft sehr komplex und aufwändig. Trotzdem ist diese Zeitspanne nicht mehr unbedingt angebracht, ja sie steht im Widerspruch zu den Entwicklungen der Digitalisierung, des technologischen Fortschritts und der Automatisierung von Aufgaben. Hier liegt eine erste Herausforderung, der die Bildungssysteme Rechnung tragen müssen: Zu verhindern, dass die Menschen am Ende ihrer Ausbildung mit Kompetenzen dastehen, die den Bedürfnissen des Arbeitsmarktes nicht mehr entsprechen.
2. Von der Verwaltung von Wissensbeständen zur Verwaltung von Wissensströmen
Sehr viele Kompetenzen werden in den formalen Beurteilungen nicht berücksichtigt. Diese gilt es, zur Stärkung der beruflichen Mobilität besser zu erfassen und zu validieren.
Die Konsequenz der Obsoleszenz von Kompetenzen ist, dass das Wissen ständig aktualisiert werden muss. Idriss Aberkane[4] machte deutlich, dass die Aufgabe der Menschen nicht mehr darin besteht, Wissensbestände zu verwalten, die bald obsolet werden, sondern zu lernen, wie man mit kontinuierlichen Wissensströmen umgeht. Die Menschen müssen die Fähigkeit entwickeln, altes Wissen in Frage zu stellen und neues Wissen zu erwerben. F. Taddei[5] sah sich zu der Aussage veranlasst, dass man «um zu lernen beginnen muss zu verlernen». Die Fähigkeit, neues Wissen zu erwerben, wird künftig mehr Bedeutung haben als das Wissen selbst. Dies lässt sich leicht an den täglichen Updates erkennen, die wir alle durchführen müssen, um unsere Smartphones und Computer weiterhin nutzen zu können; sie zwingen uns immer wieder zwingen, Gewohnheiten aufzugeben. Auf der Ebene der Funktionsweise von Unternehmen und Institutionen erfolgen diese Anpassungen fortlaufend und werden immer komplexer. Von diesen Anpassungsmassnahmen hängt das reibungslose Funktionieren der Wirtschaft und der Gesellschaft ab.
Für die Berufsbildungssysteme bedeutet das, dass nicht nur Methoden zum Lernen, sondern auch Techniken zum Verlernen in die Ausbildung integriert werden müssen – immer im Bewusstsein, dass jeder Erwerb nur provisorisch ist. Eine weitere Konsequenz ist, dass die traditionelle Abfolge von Erstausbildung, Weiterbildung und lebenslangem Lernen in Frage gestellt werden muss. Es wäre nunmehr sinnvoller, zum Konzept des «ganztägigen Lernens»[6] überzugehen. Schliesslich muss die Thematik der Anerkennung von Kompetenzen und Qualifikationen, die in den derzeitigen Systemen noch viel zu zurückhaltend und lückenhaft erfolgt, überdacht und vor allem verstärkt werden. Sehr viele Kompetenzen werden in den formalen Beurteilungen nicht berücksichtigt. Diese gilt es, zur Stärkung der beruflichen Mobilität besser zu erfassen und zu validieren.
3. Arbeit und die damit verbundenen Unsicherheiten
Arbeitsgestaltung und -abläufe unterliegen völlig neuen Entwicklungen, und zwar mit einer Geschwindigkeit, die noch vor drei oder vier Jahren niemand für möglich gehalten hätte. Vor Covid arbeitete kaum mehr als ein Viertel der Menschen in der Schweiz mindestens einen Tag pro Woche zu Hause.[7] Heute ist diese Praxis allgemein verbreitet. Es gibt jedoch nicht nur Homeoffice. Die Die Gig Economy, ein Arbeitsmarktkonzept, bei dem Kundinnen und Anbieter von Dienstleistungen über das Internet zusammenfinden und Aufträge flexibel und kurzfristig vergeben werden, boomt. Sie erhöht die Möglichkeiten der Selbstständigkeit, auch wenn diese in den Statistiken noch kaum erfasst wird. Die Unternehmen produzieren just-in-time, indem sie so schnell wie möglich auf zunehmend spezifischere Anforderungen ihrer Kundinnen reagieren. Immer häufiger wird auf Zulieferer zurückgegriffen und die Produktion fragmentiert. Flexibilität, Anpassungsfähigkeit, Komplexität und Reaktionsfähigkeit werden zum Schlüssel der Funktionsweise von Unternehmen. In diesem Kontext sind die Unternehmensleitungen letztlich oft nicht in der Lage, die Zukunft ihres Unternehmens über zwei bis drei Jahre hinaus zu skizzieren.
In Bezug auf die Berufspraxis stützt sich das schweizerische Berufsbildungssystem mehrheitlich auf die Unternehmen. Dem liegt das Bild des Unternehmens zugrunde, das in einem stabilen Umfeld tätig ist:
- eine Anstellung für eine Dauer von zwei, drei oder vier Jahren; die Bereitstellung von Berufsbildnerinnen und Berufsbildnern (entweder einer Person in Vollzeit oder mehrerer in Teilzeit);
- die Erfüllung aller in der Verordnung vorgesehenen Aufgaben;
- eine klare Verteilung der Zuständigkeiten und Verantwortlichkeiten;
- eine langfristige Präsenz der Berufsbildner und Berufsbildnerinnen;
- eine Formalisierung der Kompetenzen durch Qualifikationsprofile.
Das Berufsbildungssystem wird sich natürlich weiter auf die Unternehmen verlassen müssen, um ein gutes Mass an Beschäftigungsfähigkeit zu gewährleisten. Dabei muss aber die Unbeständigkeit der Wirtschaft, die Notwendigkeit einer auf Flexibilität, Beweglichkeit und Agilität basierenden Organisation und das Fehlen einer mittelfristigen Planbarkeit berücksichtigt werden. Die Herausforderung besteht darin, weiterhin Unternehmen aus allen Wirtschaftszweigen einzubinden.
4. Ausbildung jenseits von Berufen
Berufe haben keine Grenzen mehr, sondern werden sich aus Kompetenzen aus verschiedenen Bereichen zusammensetzen.
Der Beruf – als Ansammlung von Wissen, Können und Fertigkeiten definiert – war schon immer die zentrale Achse der Berufsbildung, ihr Dreh- und Angelpunkt. Der Beruf hat klare Grenzen, die ihn von anderen Berufen unterscheiden und zu seiner Identität beitragen. Abgesehen von der Allgemeinbildung, die allen Berufen zugrunde liegt, sind die anderen Kompetenzen recht spezifisch und entsprechen sehr genauen Anforderungen. Bis Ende der 1990er-Jahre liess sich die Arbeitsumgebung sehr gut anhand des Berufs beschreiben. Ausgehend von den beruflichen Entwicklungsmöglichkeiten in einem Beruf, den mittel- oder sogar langfristigen Berufsaussichten und den Möglichkeiten, die künftigen Inhalte zu antizipieren, konnte auch auf die Zukunft in einem Beruf geschlossen werden.
Durch die technologische Beschleunigung und die Veränderung durch die Digitalisierung geht diese Vorstellung von Beruf verloren. Berufe haben keine Grenzen mehr, sondern werden sich aus Kompetenzen aus verschiedenen Bereichen zusammensetzen. Wird der Maurerberuf, wenn beim Bau eines Hauses 3D-Druck eingesetzt wird, noch mit dem traditionellen Maurerhandwerk vergleichbar sein, oder wird er eher einem Beruf in der Industrie ähneln, also etwa der Tätigkeit einer Fachkraft für 3D-Druck? Die Stellenprofile werden sich immer weiter von dem entfernen, was in der entsprechenden Ausbildung formal beschrieben wurde. Der Beruf ist nicht mehr so überschaubar und vor allem ist die Planbarkeit abhandengekommen. Wenn man sagt, dass 65% der Berufe, die die Schulkinder von morgen ausüben werden, noch nicht existieren, bedeutet das keineswegs, dass nicht bekannt ist, welche Fähigkeiten und Kompetenzen morgen benötigt werden. Mithilfe der Megatrends[8] und eines vorausschauenden Ansatzes können diese durchaus ermittelt werden. Was aber völlig klar ist, ist, dass man sich nicht mehr auf das Konzept des Berufs beziehen kann, um die Zukunft zu antizipieren. Für Prognosen in diese Richtung wird man sich an andere Bezugsrahmen gewöhnen müssen.
Das Schweizer Berufsbildungssystem basiert vollständig auf dem Konzept des Berufs, sowohl was die Inhalte, die gelehrt werden als auch was die Verwaltung und Organisation betrifft – genau das macht es ja zu einem System, das der Forderung nach Beschäftigungsfähigkeit junger Menschen in idealer Weise gerecht wird.[9] Obwohl dieses Verständnis weiterhin Gültigkeit hat, könnte die antizipatorische Kraft und somit die Zukunftsausrichtung der Berufsbildung gleichwohl völlig in Frage gestellt werden.
Der Verlust der Überschaubarkeit von Berufen und der Möglichkeit, deren Entwicklung zu antizipieren, um für die Zukunft zu planen, wird sich auch auf die gesamte Laufbahnberatung auswirken, die bislang eben auf die Berufswahl ausgelegt war. In Situationen, die von Unsicherheit und Komplexität geprägt sind, werden die Menschen nicht mehr einen Bildungsweg wählen, weil sie gut informiert sind und ihn kennen, sondern sie werden ihn wählen, um ihn eben kennenzulernen und ihre Entscheidung zu konsolidieren oder zu verwerfen. Dies haben wir als umgekehrte Berufsorientierung bezeichnet.[10] Mit anderen Worten: Die Validierung einer Berufswahl erfolgt im Nachhinein und nicht mehr im Voraus. Das hat, wie wir in mehreren Kantonen feststellen, auch in Genf, zur Folge, dass der Eintritt in die Berufsbildung immer später erfolgt, es immer häufiger zu Umorientierungen kommt und Druck auf das Bildungssystem ausgeübt wird, wo immer noch die Ansicht vorherrscht, dass die berufliche Orientierung im Vorfeld (zwischen Sekundarstufe I und Sekundarstufe II) zu erfolgen hat. Langfristig könnten sich die Unternehmen mit dem Argument, es sei nicht ihre Aufgabe, einen Teil der Beratung zu übernehmen, von der Ausbildung abkoppeln.
Fazit: Adaptive oder disruptive Entwicklungen?
Es wurden hier einige der grössten Herausforderungen vorgestellt, denen sich die Bildungssysteme stellen müssen. In den letzten Jahrzehnten hat das Schweizer Bildungssystem, das zurecht für seine Exzellenz bekannt ist, seine Anpassungsfähigkeit unter Beweis gestellt und gleichzeitig seinen Pragmatismus und seine Werte bewahrt. So wurde dafür gesorgt, dass jeder und jede in die Arbeitswelt integriert werden konnte. Im Zeitalter der Ungewissheit stellt sich eine wichtige Frage: Können sich die Bildungssysteme weiterhin durch schrittweise Verbesserungen anpassen oder müssen, je nach den gegenwärtigen oder zukünftigen Umwälzungen, disruptive[11] Innovationen erfolgen, die den aktuellen Rahmen grundlegender in Frage stellen?
[1] J-G. Ganascia, Le mythe de la singularité – Faut-il craindre l’intelligence artificielle, Seuil 2017. [2] www.elamp.fr [3] Das Schweizer Bundesgesetz über die Berufsbildung wurde 2002 verabschiedet und trat 2004 in Kraft. [4] I. Aberkane, Libérez votre cerveau, Laffont, 2016. [5] F. Taddei, Apprendre au XXI siècle, Calman-Lévy,2018 [6] Im Original: «formation tout au long de la journée». G. Evéquoz, la carrière professionnelle 4.0, tendances et opportunités, Slatkine,2019 [7] Le casse-tête des horaires de travail, Marie Meurisse, 8. Februar 2023 [8] Ich habe acht große Megatrends herausgearbeitet, die ich in La Carrière 4.0 vorstelle. [9] Vgl. die Rollen der Organisationen der Arbeitswelt (OdA). [10] G. Evéquoz, Du choix d’un métier à la construction de sa vie, l’accompagnement à l’ère des incertitudes, Chronique sociale, 2022. [11] J.M. Dru, New,15 approches disruptives de l’innovation, Pearson, 2016Ouvrages de référence
- Aberkane, I. Libérez votre cerveau, Robert Laffont, 2016.
- Dru, J.M. New, 15 approches disruptives de l’innovation, Pearson, 2016.
- Evéquoz, G. La carrière 4.0, tendances et opportunités, Slatkine, 2019.
- Evéquoz, G. Du choix d’un métier à la construction de sa vie, l’accompagnement à l’ère des incertitudes, Chronique sociale, 2022.
- Ganascia J.G. Le mythe de la singularité – Faut-il craindre l’intelligence artificielle, Seuil 2017.
- Taddei, F. Apprendre au XXI siècle, Calman lévy, 2018.
Zitiervorschlag
Évequoz, G. (2023). Herausforderungen für die Berufsbildung in ungewissen Zeiten. Transfer. Berufsbildung in Forschung und Praxis 8(12).