Berufsbildung in Forschung und Praxis
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Dieter Euler

Reformen in der Berufsbildung – unnötig oder unverzichtbar?

Bildungsreformen werden zunehmend in Frage gestellt. Viele betonen die Überforderungen, die mit ihnen verbunden sind, andere glauben «linke Bürokraten» am Werk, dritte erkennen eine vorauseilende Anpassung an pädagogische Moden. Aber so kritisch manche Reformen zu sehen sind, so klar ist auch, dass sich die Berufsbildung wandeln muss – auf Ebene der Qualifikationsprofile, aber auch auf Ebene der Methoden und der Didaktik. Der vorliegende Text legt in fünf Thesen dar, welche Bedingungen gute Reformprojekte erfüllen müssen.


Reformen finden im Bildungskontext häufig ein geteiltes Echo. Ein Niklas Luhmann zugeschriebenes Zitat drückt die Skepsis gegenüber einem ausgeprägten Reformgeist aus: «Reformer sind Personen, die bereit sind, Zustände mit bekannten Nachteilen gegen Zustände mit unbekannten Nachteilen auszutauschen.» Und versteht man die kritische Analyse als Vorstufe zu einer möglichen Reform, so erscheint diese Skepsis auch im Hinblick auf die schweizerische Berufsbildung nicht fern. Vor zwei Jahren diskutierten Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler an der EHB zum Thema «Warum sollte man das ‚beste System der Welt‘ kritisieren?» (Bonoli et al. 2023). Keine Kritik – kein Reformbedarf? Ist Kritik nicht der Motor für Entwicklung und Fortschritt auch und gerade in der Bildung? Klaffen hier Wissenschaften und Machenschaften, die Begründung für Veränderung und die Verteidigung des Bestehenden auseinander?

Ich will versuchen, über fünf Thesen die Herausforderungen bei der Begründung und Umsetzung von Reformen etwas auszuleuchten – sozusagen als «extreme Mitte» zwischen Reform­enthusiasmus und Reformskepsis.

  • Reformen setzen in der Bildungspraxis häufig an Antworten an, ohne eine gute Problemanalyse vorzuschalten und die Ziele genau zu bestimmen. Reformen drohen dann schnell ihren Kompass zu verlieren, denn ohne klare Ziele ist jeder Weg ein beliebiger. So wird etwa der Bologna-Reform nachgesagt, dass sie sich in der Umsetzung verselbständigt hat und die ursprünglichen Ziele aus den Augen verloren hat. Die Reform verliert sich in Aktionismus und operativer Hektik!
  • Reformen sind häufig nicht die Folge einer bahnbrechenden Erfindung, sondern sie verbinden häufig Bekanntes mit Neuem oder sie adaptieren bekannte Zusammenhänge auf neue Gegebenheiten. So gehen viele vermeintlich neue didaktische Konzepte auf bekannte Ansätze etwa der Reform(!)pädagogik zurück. Auch in der Berufsbildung stützen sich Reformen häufig auf Konzepte, die sich in ähnlicher Form bereits anderswo bewährt haben.
  • Reformen vollziehen sich in Ungewissheit über ihr Gelingen. Je grösser ihr Innovationsgehalt, desto offener die durch sie ausgelösten Entwicklungen. Insofern trifft das Luhmann-Zitat einen Punkt – und im Extrem kann die Reform scheitern oder die Dinge sogar verschlechtern. Die Offenheit des Verlaufs ermöglicht jedoch gleichermassen auch einen möglichen Erfolg und eine Verbesserung der Dinge.

Reformen schaffen in der Regel Widerstände, mal mehr, mal weniger. «Der Mensch liebt den Fortschritt, aber er hasst die Veränderung», so ist in vielen Management-Brevieren zu lesen.

  • Reformen schaffen in der Regel Widerstände, mal mehr, mal weniger. «Der Mensch liebt den Fortschritt, aber er hasst die Veränderung», so ist in vielen Management-Brevieren zu lesen. Reformen beinhalten zwei Zumutungen: Die betroffenen Menschen müssen sich auf Neues einlassen, und sie müssen sich von Gewohntem lösen. Insbesondere wenn die Reformen auf die Veränderung von Einstellungen und Gewohnheiten zielen, sind Widerstände verbreitet. Warum ein bewährtes System der Berufsbildung ändern, wenn es doch in der Vergangenheit so erfolgreich war. Gerade dem Bildungssystem wird eine ausgeprägte Eigensinnigkeit nachgesagt, das sich mit bewährten Abwehrreflexen erfolgreich gegen vermeintliche Reformzumutungen wehrt.
  • Reformen bedürfen Zeit der Umsetzung und Konsolidierung, um nachhaltig wirksam sein zu können. Häufig ist zu beobachten, dass Innovationen in Zeiten pausenloser Betriebsamkeit entstehen. Bevor sie reifen und schrittweise verbessert und konsolidiert werden, überlagern neue Reformanliegen die alten. So wird aus vielen Schulprojekten berichtet: Schulen sind nicht abgeneigt gegenüber Innovationen. Sie wehren sich jedoch gegen die überladene und unzusammenhängende Fülle von zu vielen Innovationen zur gleichen Zeit. Die Folge von zu hastigen und wenig nachhaltigen Vorgehensweisen ist im Bild der «Spatzenorganisation» veranschaulicht: Die Spatzen sitzen ruhig auf dem Baum. Der Mensch möchte, dass sie den Baum verlassen, also klatscht er mehrfach laut in die Hände. Die Spatzen fliegen auf, und verteilen sich auf einem anderen Baum. Der Mensch freut sich über die Wirkung seiner Intervention – und bemerkt nicht, dass die Spatzen nach und nach wieder auf den gewohnten Baum zurückkommen und dort nach einiger Zeit wieder so sitzen wie zuvor!

Reformen in der Berufsbildung – unnötig oder unverzichtbar? Die Antwort erscheint paradox: Sie sind nötig und verzichtbar! Notwendig, weil sich auch und gerade in der Berufsbildung die Rahmenbedingungen in Wirtschaft, Technologie, Gesellschaft und letztlich im Handeln der Lernenden kontinuierlich ändern und damit die Strukturen und Lernprozesse immer wieder bedacht und neu gedacht werden müssen. Verzichtbar dann, wenn Reformen zur Symbolpolitik erstarren, keine klare Zielausrichtung besitzen und sie nicht die Zeit zu ihrer Reifung und Entwicklung erhalten.

Die Kolumne von Dieter Euler erschien zuerst in «Folio» des BCH.

Literatur

Zitiervorschlag

Euler, D. (2025). Reformen in der Berufsbildung – unnötig oder unverzichtbar?. Transfer. Berufsbildung in Forschung und Praxis 10(4).

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