Berufsbildung in Forschung und Praxis
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Studie «Politische Bildung auf Sekundarstufe II. Eine Bilanz»

Teilweise besser als die Gymnasien

Wer einen Beruf lernt, erhält eine vergleichsweise gute politische Bildung. Das lässt zumindest eine Analyse von kantonalen und schulischen Lehrplänen der beruflichen Grundbildung annehmen. Dabei gehen die meisten Lehrpläne über die Konzipierung der politischen Bildung als reine Wissensvermittlung hinaus – sie wollen durchaus auch Interesse für politische Zusammenhänge wecken und Übungsfelder bieten. Weil allerdings mehr als ein Drittel der Lehrpersonen den Lehrplänen für die Unterrichtsvorbereitung eine (relativ) unwichtige Rolle zuspricht, ist ihre Wirkung ungewiss.


Im Rahmen der Bearbeitung eines Postulats von Josiane Aubert mit dem Titel «Staatskundeunterricht auf der Sekundarstufe II. Eine Bilanz»1 hat das Staatssekretariat für Bildung, Forschung und Innovation (SBFI) einen Expertenbericht zur Bilanzierung des Staatskundeunterrichts auf der Sekundarstufe II in Auftrag gegeben. Im Zentrum des Berichts und unserer Arbeiten stand entsprechend die Frage, wie die Rahmenlehrpläne zur politischen Bildung in den Kantons- und Schullehrplänen der Sekundarstufe II umgesetzt werden. Die Umsetzung der Rahmenlehrpläne auf Ebene der Kantone und Schulen ist deshalb von Bedeutung, weil den Kantonen und Schulen im Schweizer Bildungsföderalismus eine hohe Autonomie zukommt. Entsprechend variiert die Umsetzung der Rahmenlehrpläne zwischen Regionen und Schulen stark, was die Effektivität der Rahmenlehrpläne für die tatsächlich unterrichteten Inhalte und Fertigkeiten beeinflusst.

Dem Bericht liegt ein breites Verständnis von politischer Bildung zu Grunde, das neben den vermittelten «Kenntnissen» und «Fertigkeiten» auch die Dimension «Interesse wecken» umfasst. Grundsätzlich wird – in Wissenschaft und Praxis – die Relevanz des politischen Unterrichts mit der Annahme begründet, dass ein Grundstock an politischem Wissen und Fertigkeiten, aber auch die Sensibilisierung für politische Fragen wichtige Voraussetzungen darstellen, um sich aktiv am politischen Leben zu beteiligen. Ein hoher Stellenwert politischer Bildung wird insbesondere in partizipativen Kontexten wie der Schweiz betont.

Im Zentrum der Untersuchung steht eine Inhaltsanalyse von 146 kantonalen und schulspezifischen Lehrplänen auf Sekundarstufe II. Ergänzt wurde diese durch eine Analyse von Schülerinnen- und Schülerdaten sowie von 211 Lehrpersonen in Abschlussklassen an Berufsfachschulen und Gymnasien.

Im Folgenden werden ein paar zentrale Befunde präsentiert. Das Augenmerk liegt dabei auf dem Bereich der beruflichen Grundbildung. Es ist anzumerken, dass die Bezeichnung des Fachs, in welchem die politische Bildung integriert ist, durch die jeweiligen eidgenössischen Rahmenlehrpläne festgelegt ist. So ist der politische Unterricht an Berufsfachschulen ohne Berufsmaturität (BM) Teil des «Allgemeinbildenden Unterrichts» (ABU). An Berufsfachschulen mit BM wird typischerweise eine Doppelbezeichnung verwendet (z.B. «Geschichte und Staatslehre» oder «Geschichte und Politik»). In den Lehrplänen für angehende Kaufleute respektive Detailhandelsfachleute schliesslich ist die politische Bildung Teil des Bereichs «Wirtschaft und Gesellschaft».

Berufsfachschulen schneiden überdurchschnittlich gut ab

Die Lehrpläne unterscheiden sich stark darin, wie breit politische Themen gefasst, wie häufig sie genannt und wie präzise sie beschrieben werden.

Generell findet in der grossen Mehrheit der Lehrpläne ein klares Ziel bezüglich der politischen Bildung Erwähnung. Auch gehen die meisten Lehrpläne über die Konzipierung der politischen Bildung als reine Wissensvermittlung hinaus, was also dem eingangs dargelegten mehrdimensionalen Begriff politischer Bildung entspricht. Positiv aus politik-didaktischer Perspektive ist ausserdem, dass fast alle Lehrpläne auf den Einbezug aktueller politischer oder wirtschaftlicher Ereignisse aus dem In- und/oder Ausland hinweisen und eine Mehrheit der Schulen mindestens indirekt die Erziehung der Lernenden zu mündigen Bürgerinnen und Bürgern als Ziel des (politischen) Unterrichts nennen. Gleichzeitig zeigt sich jedoch, dass wichtige Elemente einer zielführenden politischen Bildung im Hinblick auf das spätere politische Engagement in den Lehrplänen spärlich vertreten sind – z.B. das Wecken politischen Interesses oder das Einüben demokratisch-partizipativer Praktiken im Schulunterreicht.

Darüber hinaus lässt sich jedoch vor allem eine grosse Heterogenität in der Art und Weise feststellen, wie umfassend die kantonalen und schulspezifischen Lehrpläne das Thema der politischen Bildung abdecken. Mit anderen Worten: Die Lehrpläne unterscheiden sich stark darin, wie breit politische Themen gefasst, wie häufig sie genannt und wie präzise sie beschrieben werden. Die Differenzen sind dabei jedoch nicht für alle analysierten Teilaspekte gleich ausgeprägt. Das heisst auch, dass nicht immer derselbe Schultyp klar am «besten» abschneidet.

Trotzdem ziehen sich gewisse systematische Unterschiede durch fast alle Analysen durch. Zu nennen sind nicht zuletzt Differenzen zwischen den Schultypen. Dabei wurde erwartet, dass insbesondere allgemeinbildende Schulen angesichts der vergleichsweise höheren Anzahl zur Verfügung stehender Lektionen sowie ihrer allgemeinbildenden Ausrichtung politische Themen stärker integrieren als Berufsfachschulen, welche von den Lernenden nur an ein bis zwei Tagen besucht werden. Die Ergebnisse zeigen jedoch ein gegenteiliges Bild. Auch wenn die Lehrpläne der Berufsfachschulen typischerweise eine geringere Anzahl an Schulstunden regeln als jene der allgemeinbildenden Schulen, ist die politische Bildung eher stärker verankert.

Innerhalb der beruflichen Grundbildung zeigen sich dabei allerdings weitere Unterschiede. Insgesamt erreichen Lehrpläne der Berufsfachschulen mit BM, insbesondere jene, die ihre Lehrpläne bereits an den Rahmenlehrplan von 2012 angepasst haben, in den drei primär untersuchten Dimensionen – Kenntnisse, Fertigkeiten sowie Interesse wecken – vergleichsweise hohe Werte. Am schlechtesten schneiden die Lehrpläne für die kaufmännische Grundbildung und den Detailhandel ab, welche einen integrierten ABU aufweisen.

Auch wenn die Fallzahlen gerade für letztere gering sind, deuten diese Befunde darauf hin, dass die kantonale bzw. schulspezifische Umsetzung des politischen Unterrichts wesentlich von den nationalen vorgegebenen Richtlinien (den Rahmenlehrplänen bzw. Bildungsplänen also) geprägt ist. Gerade der neue Rahmenlehrplan für die Berufsmaturität (RLP-BM) diskutiert politische Bildungsinhalte besonders umfassend und präzise. Anders als ältere Rahmenlehrpläne wird zudem die Dimension «Interesse wecken» deutlich stärker betont, während Lehrpläne der Berufsfachschulen ohne BM (inkl. Kaufmännische Grundbildung und Detailhandel) diesen Faktor mehr oder weniger ausser Acht lassen.

Beschränkter Rückhalt der Lehrpläne bei den Lehrpersonen

Ein wesentlicher Teil der Lehrpersonen (mehr als ein Drittel) spricht den Lehrplänen für die Unterrichtsvorbereitung eine (relativ) unwichtige Rolle zu.

Die Analysen des Berichts können lediglich einige Hinweise dazu geben, welche Rolle die Lehrpläne für den tatsächlichen Unterricht spielen. Die Befunde deuten einerseits darauf hin, dass ein wesentlicher Teil der Lehrpersonen (mehr als ein Drittel) den Lehrplänen für die Unterrichtsvorbereitung eine (relativ) unwichtige Rolle zuspricht. Dies ist insofern problematisch, als eine effektive und zielführende Umsetzung der Lehrpläne bzw. der darin enthaltenen Vorgaben zur politischen Bildung natürlich die Nutzung dieser Lehrpläne im Unterricht voraussetzt. Zudem zeigt sich, dass jene Lehrpersonen, welche die Lehrpläne nutzen, häufiger das Gefühl haben, dass die Behörden sich zu wenig für politische Bildung interessieren. Dies spricht insgesamt nicht für einen sehr starken Rückhalt der Lehrpläne bei der Lehrerschaft.

Andererseits deuten jedoch die Analysen darauf hin, dass die Ausgestaltung der Lehrpläne durchaus Einfluss auf den politischen Unterricht nehmen kann. So geben die Lehrpersonen eine höhere Zahl der im Unterricht behandelten politikrelevanten Themen an, wenn auch die für sie geltenden Lehrpläne eine grosse thematische Breite im Bereich politischer Bildung aufweisen. Ausserdem nehmen Lernende die politische Bildung in ihrem Unterricht als ausgeprägter war, wenn der politische Unterricht in den für sie relevanten Lehrplänen einen hohen Stellenwert geniesst.

Was man besser machen könnte

Die Analysen sprechen dafür, dass eine starke Verankerung der politischen Bildung in den Rahmenlehrplänen die Umsetzung politischer Bildungsinhalte auf Schul- und Kantonsebene positiv beeinflusst.

Vor dem Hintergrund unserer Befunde lässt sich Verbesserungspotential vor allem auf zwei Ebenen ausmachen.

Einerseits bieten sich Massnahmen an, welche der grossen Heterogenität in den Lehrplänen entgegenwirken und die Verankerung der politischen Bildung auf einem durchgängig hohen Niveau fördern. Die Analysen – und gerade das Beispiel des neuen RLP-BM – sprechen dafür, dass eine bewusste Gestaltung – d.h. eine starke Verankerung der politischen Bildung in den Rahmenlehrplänen – die Umsetzung politischer Bildungsinhalte auf Schul- und Kantonsebene verbessert. In diesem Zusammenhang drängt sich jedoch eine Diskussion darüber auf, was gute politische Bildung überhaupt enthält und welche Aspekte entsprechend in (Rahmen-)Lehrplänen minimal abgedeckt werden sollen (siehe Kasten).

Andererseits bieten sich Massnahmen an, welche auf die Nutzung der Lehrpläne und die Sensibilisierung zentraler Akteure abzielen. Insbesondere steht und fällt die Umsetzung der Lehrpläne mit den Lehrpersonen. Die Sensibilisierung zur Nutzung der Lehrpläne für die Unterrichtsgestaltung, aber auch der stärkere Einbezug der Lehrerschaft (und möglicherweise auch der Schülerschaft) in die Diskussion zur politischen Bildung und die Lehrplangestaltung könnten die Umsetzung der Lehrpläne im Schulunterricht verbessern. Zudem bietet sich eine stärkere Gewichtung der politischen Bildung in den Ausbildungsgängen angehender Lehrpersonen an. Insgesamt kann eine Strategie zur Stärkung der politischen Bildung auf Sekundarstufe II nicht nur auf die Umsetzung der Rahmenlehrpläne in den kantonalen und Schullehrpläne alleine fokussieren, sondern muss ebenso die strukturellen, gesellschaftlichen und politischen Kontexte berücksichtigen, in welchen Lehrpläne entstehen und genutzt werden.

1 13.3751 – Motion: Staatskundeunterricht auf der Sekundarstufe II. Eine Bilanz, eingereicht von Josiane Aubert, 06. 11 2013.

Download des Berichts

Wie sieht «gute» politische Bildung aus?

Eine Frage, die der hier präsentierte Bericht nicht beantworten kann, ist die Frage, wie die ideale politische Bildung aussieht. Auf der einen Seite ist Politik und die politische Bildung ein äusserst breites Thema, welches im Idealfall durch eine ebenso umfassende Vermittlung von Kenntnissen und Fertigkeiten (sowie möglicherweise sogar weiterer Dimensionen) gelehrt werden könnte – ergänzt durch Bestrebungen, welche bei den Lernenden das Interesse an Politik wecken. Auf der anderen Seite ist aber klar, dass ein Lehrplan, der nur wenige Stunden des Schulalltags regelt, politische Bildung nicht in dieser idealen Art und Weise beschreiben kann. Deshalb ist eine Konzentration auf zentrale Aspekte nötig. Wird diese Konkretisierung nicht im Rahmenlehrplan vorgenommen, dann bleibt diesbezüglich viel Spielraum für die kantonalen und Schullehrpläne, welcher zu grossen Unterschieden in der Umsetzung führt.

«Gute» politische Bildung gilt es also zu definieren. Entsprechend ist eine Diskussion darüber sinnvoll, was gegenüber einem potenziellen Ideal tatsächlich realistisch und machbar ist und welche Aspekte für eine «gute» politische Bildung als unabdingbar betrachtet werden (z.B. im Sinne von Mindeststandards). Als Beispiel lässt sich hier das Thema «Schweizer Politik» hervorheben, welches in einem wesentlichen Teil der Lehrpläne einen unterdurchschnittlichen Stellenwert geniesst, aber für die konkrete politische Beteiligung im schweizerischen politischen System von besonderer Bedeutung ist.

Zitiervorschlag

Stadelmann-Steffen, I., & Marti, L. (2016). Teilweise besser als die Gymnasien. Transfer. Berufsbildung in Forschung und Praxis 1(2).

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