Von erreichten und verpassten Anschlüssen – ausgewählte Analysen zur Durchlässigkeit der Schweizer Berufsbildung
Wie durchlässig ist die Schweizer Berufsbildung wirklich?
Die Schweizer (Berufs-)Bildungspolitik prägt mit unterschiedlichen Initiativen und Kampagnen seit rund 20 Jahren den Begriff der Durchlässigkeit. Die damit verbundene Idee, dass junge Personen mit unterschiedlicher Vorbildung im Bildungssystem vielfältige Abschlüsse erreichen können, gelangte mit Slogans wie «Kein Abschluss ohne Anschluss» in den öffentlichen Sprachgebrauch. Eine kritische Analyse zeigt, dass namentlich die Berufsmaturität die in sie gesetzten Hoffnungen nur teilweise erfüllen kann. Der Abschluss einer BM I oder II hängt bei vergleichbaren Leistungen (in standardisierten Tests) in hohem Masse vom sozioökonomischen Status der Eltern, dem Geschlecht, den Bildungsaspirationen und dem besuchten Schultyp auf der Sekundarstufe I ab.
Die bildungspolitische Rede über Durchlässigkeit wurde in den letzten Jahren mehrfach in der wissenschaftlichen Auseinandersetzung aufgegriffen und hat zu einigen interessanten Analysen geführt. Exemplarisch dafür stehen unter anderem die Arbeiten von David Glauser (2015: Berufsausbildung oder Allgemeinbildung), Franziska Jäpel (2017: Die Berufsmaturität als Ausbildungsalternative), Dominique Oesch (2017: Potentielle und Realisierte Durchlässigkeit in gegliederten Bildungssystemen) und dem Autor dieses Beitrags (2018: Erreichte und verpasste Anschlüsse – Zur Durchlässigkeit der Schweizer Sekundarstufe II).
Die Durchlässigkeit des Bildungssystems ist bis zum aktuellen Zeitpunkt noch relativ weit davon entfernt, alle mit ihr verbundenen Versprechungen und Hoffnungen einzulösen.
In Deutschland ist die Diskussion um Durchlässigkeit stark an die Entwicklung von Gesamtschulen auf der Sekundarstufe I und II in den 1960er und 1970er Jahre gekoppelt. Schon früh wurden in Analysen zu diesem damals neuen Schulmodell Fragen der Häufigkeit von Auf- und Abstiegen zwischen den verschiedenen Niveaus bearbeitet. Dies nicht zuletzt deshalb, weil ein damit verbundenes Ziel die Entdeckung und Förderung von Begabungsreserven (also talentierten Kindern aus der Arbeiterschicht) und die Prävention des drohenden Fachkräftemangels war. In der Schweiz hingegen nimmt eine vergleichbare Diskussion erst in den 1980er-Jahren Fahrt auf. Dies geschieht insbesondere im Kontext der Pläne die Zulassung zu den Höheren Technischen Lehranstalten zu vereinheitlichen resp. die Vorbildung ihrer Studierenden zu verbessern. Damit hängt in der Folge die Umwandlung der Berufsmittelschulen in Berufsmaturitätsschulen und die Einführung von Fachhochschulen zusammen (siehe dazu u.a. die historische Rekonstruktion von Kiener & Gonon, 1998). Für die Schweiz gilt etwas vereinfacht die Feststellung: Der Durchlässigkeitsdiskurs ist genuin ein Berufsbildungsdiskurs.
Aktuell fristet der Begriff der Durchlässigkeit ein chimärenhaftes Dasein. So werden gänzlich unterschiedliche Phänomene teilweise undifferenziert darunter subsumiert. Die zwei häufigsten Formen sind horizontale und vertikale Durchlässigkeit. Zudem wird oft die Validierung informell erworbener Bildungsleistungen in formalen Ausbildungen als eine Form der Durchlässigkeit thematisiert.
Horizontale Durchlässigkeit wird als Wechselmöglichkeit zwischen getrennten – parallel verlaufenden – Bildungswegen in derselben Schulstufe (z. B. innerhalb der Sekundarstufe II) verstanden, unter vertikaler Durchlässigkeit werden mögliche Übergänge zwischen einer Schulstufe (nach deren Abschluss) und einem anderen Zweig der nächst höheren Stufe zusammengefasst (z. B. von der Berufsbildung auf Sekundarstufe II an eine Fachhochschule). Zu diesen beiden Formen werden in der Folge zwei ausgewählte Analysen des Autors mit Fokus auf die Berufsbildung vorgestellt – sie basieren allesamt auf Daten des TREE Panels (detaillierter bei Kost, 2018).
Horizontale Durchlässigkeit in der Sekundarstufe II insgesamt und in der Berufsbildung
Die Durchlässigkeit führt also etwas zugespitzt formuliert, meist nach unten.
Interessant ist zunächst einmal die Frage, ob und wie häufig Wechsel innerhalb der Sekundarstufe II überhaupt vorkommen und welche weiteren Merkmale mit diesen zusammenhängen. Die Analysen verdeutlichen, dass die horizontale Durchlässigkeit innerhalb der Sekundarstufe II insgesamt sehr gering ist. So wechseln z.B. sowohl im ersten Jahr der Sekundarstufe II, aber auch in den Folgejahren deutlich unter 1 Prozent der Jugendlichen von der Berufsbildung in die Handels-, die Fachmittelschule oder das Gymnasium. Die häufigsten Wechsel können von den Fachmittelschulen (seltener von den Handelsmittelschulen und den Gymnasien) in die Berufsbildung festgestellt werden. Wechsel in das Gymnasium hinein kommen über alle Schul- und Ausbildungstypen am wenigsten häufig vor, und die Sprachregionen unterscheiden sich darin auch kaum. Hingegen zeigen sich bei Wechseln aus dem Gymnasium wie auch jenen zwischen FMS, HMS und Berufsbildung insofern grosse Unterschiede, als dass diese in der Westschweiz und im Tessin deutlich häufiger vorkommen als in der Deutschschweiz. Insgesamt zeigen sich damit bei der horizontalen Durchlässigkeit der Sekundarstufe II ähnliche Muster wie bei der Sekundarstufe I: Die Wechselbewegungen zwischen Ausbildungstypen führen in der Tendenz in solche mit niedrigerem kognitiven Anforderungsniveau resp. in solche mit eingeschränkten Zulassungsbedingungen für weiterführende Ausbildungen. Die Durchlässigkeit führt also etwas zugespitzt formuliert, meist nach unten.
Die eingeschränkte horizontale Durchlässigkeit zwischen der beruflichen Grundbildung und den anderen Typen der Sekundarstufe II muss aber vor dem Hintergrund einer ausgeprägten Binnendurchlässigkeit im Berufsbildungssystem angeschaut werden. Denn die meisten Wechselbewegungen im Verlauf der Ausbildung auf der Sekundarstufe II kommen hier vor: In Form von Betriebswechseln mit (ca. 12%) und ohne Berufswechseln (ca. 21%) und Berufswechseln innerhalb des Betriebs (ca.11%). Somit kann für das Berufsbildungssystem eine Binnenöffnung festgestellt werden, bei gleichzeitiger relativer Verschlossenheit gegenüber anderen Typen der Sekundarstufe II.
Vertikale Durchlässigkeit im Berufsbildungssystem: Von der Lehre, via BM zur Fachhochschule
Mit der Einführung der Berufsmaturität waren vielfältige Hoffnungen verbunden. Sie sollte in erster Linie die zuverlässige Qualifikation künftiger FH-Studierender gewährleisten. Zusätzlich sollte über die BM aber auch das gesamte Bildungssystem durchlässiger werden, frühere Fehlentscheidungen der schulischen Selektion ausgeglichen werden (und damit bis zu einem gewissen Grad auch eine soziale Ungleichheit kompensierende Wirkung erzielt werden), ein drohender Fachkräftemangel abgefedert werden und Wege von der Berufsbildung (via BM und Passarelle) an Universitäten ermöglichen. (siehe dazu auch die die Ausführungen des Autors zu kantonalen Unterschieden in der BM).
Weitere Analysen zeigen – wie dies auch Jäpel (2017) für die BM I differenziert analysierte – dass der Abschluss einer Berufsmatura (BM I oder II) bei vergleichbaren Leistungen (in standardisierten Tests) in hohem Masse vom sozioökonomischen Status der Eltern, dem Geschlecht, den Bildungsaspirationen und dem besuchten Schultyp auf der Sekundarstufe I abhängen. Und dass diese Faktoren sowohl direkt, wie auch indirekt (über den Abschluss einer BM) für den späteren Eintritt in eine Fachhochschule von sehr grosser Bedeutung sind. So kommen Jugendliche bei gleichen Leistungen massiv seltener zu einer BM, wenn ihre Eltern aus bescheidenen sozioökonomischen Verhältnissen kommen oder sie in der Sekundarstufe I nicht den anspruchsvollsten Schultyp besuchten. Interessant ist zudem, dass Frauen nicht nur beim Eintritt in die BM leicht untervertreten sind, sondern viele von ihnen nach dem Abschluss der BM nicht den Weg an eine Fachhochschule einschlagen, sondern trotz BM den direkten Weg in den Arbeitsmarkt wählen. Der Weg von der BM via Passarelle an Universitäten wird, entgegen ursprünglicher Annahmen, recht selten genutzt. Zusammenfassend kann also festgehalten werden, dass die BM insgesamt ein wichtige und die Durchlässigkeit zwischen Berufsbildung und Tertiärstufe steigernde Rolle spielt, dass aber vielfältige weitere Hoffnungen (z.B. Fehlentscheide der Selektion korrigieren, soziale Ungleichheit kompensieren) nicht annähernd erfüllt werden konnten.
Fazit
Die Durchlässigkeit des Bildungssystems ist bis zum aktuellen Zeitpunkt noch relativ weit davon entfernt, alle mit ihr verbundenen Versprechungen und Hoffnung einzulösen. So könnte man die Idee der Durchlässigkeit – mit den Worten des französischen Soziologen François Dubet (2004) – als «fiction nécessaire» bezeichnen. Einerseits waren Entwicklungen wie die Berufsmatura oder die Anrechnung informell erworbener Bildungsleistungen an formale Ausbildungen wichtige und notwendige Fortschritte auf dem Weg zu einer gesteigerten Durchlässigkeit, andererseits bleiben viele Hoffnungen der Durchlässigkeitsförderungen bis jetzt reine Versprechen, oder eben Fiktion.
Der Wunsch nach erhöhter Durchlässigkeit ist eine strukturkonservative Forderung. Denn die geschaffenen Brücken und Anschlüsse im Bildungssystem entlasten uns davor, das Bildungssystem in seinem Kern – z.B. der Idee der Leistungshomogenisierung über verschiedene Schultypen in der Sekundarstufe I – zu reformieren. Insbesondere in der Bildungspolitik wurde in letzter Zeit die formalrechtliche Durchlässigkeit als ausreichend dargestellt und damit an die individuelle Anstrengungsbereitschaft junger Menschen appelliert – wer nur will, der könne durchaus von der Durchlässigkeit profitieren, so eine gängige Formulierung. Die Förderung der Durchlässigkeit muss siDuch aber daran messen lassen, welche Personen unter welchen Bedingungen von der Durchlässigkeit profitieren und welche allfälligen flankierenden Massnahmen (z.B. Ausbildungsdarlehen, betriebliche Anreize für BM 1 Lehrstellen etc.) die Realisierung durchlässiger Bildungslaufbahnen fördern.
Die präsentierten Resultate verweisen auf mindestens zwei Forschungsdesiderate: Zum einen zeigen die Analysen zur horizontalen Durchlässigkeit, dass regionale Aspekte die Bildungslaufbahnen massiv beeinflussen. Insofern sind Forschungsinitiativen zu befürworten, die nicht nur grosse sprachregionale Unterschiede in den Fokus nehmen, sondern Schul- und Ausbildungslaufbahnen auf der Basis regionaler Opportunitätsstrukturen analysieren (wie dies z.B. von Glauser und Becker in einem Beitrag in Transfer gezeigt wurde). Nachdem nun recht viele Analysen die Entscheidungskalküle der Jugendlichen in den Blick nahmen, sollte inskünftig stärker danach geforscht werden, welche Motive Betriebe haben, Lehrstellen mit BM anzubieten resp. aus welchen Gründen sie sich dagegen entscheiden. Diese Thematik wurde schon längere Zeit nicht mehr untersucht (Stalder, 1999).
Anmerkung
Zentrale Inhalte dieses Beitrags werden in folgendem Buch vertieft dargestellt: Kost, J. (2018). Erreichte und verpasste Anschlüsse – Zur Durchlässigkeit der Schweizerischen Sekundarstufe II. Bielefeld: W. Bertelsmann Verlag. Das Buch kann hier für 39€ bestellt werden.
Ein herzliches Dankeschön geht an Lorenzo Bonoli, Philipp Eigenmann und Chantal Kamm, von denen ich am diesjährigen Januarkolloquium des Lehrstuhls für Berufsbildungsforschung der Universität Zürich (22.-23.1.2018) einige Inspirationen für diesen Beitrag erhalten habe.
Literatur
- Dubet, F. (2004). L’école des chances : qu’est-ce qu’une école juste? Paris : Seuil, La Republique Des Idees.
- Glauser, D. (2015). Berufsausbildung oder Allgemeinbildung. Soziale Ungleichheiten beim Übergang in die Sekundarstufe II in der Schweiz. Wiesbaden: Springer.
- Jäpel, F. (2017). Die Berufsmaturität als Ausbildungsalternative. Einflussfaktoren individueller Bildungsentscheidungen am Übergang in die nachobligatorische Ausbildung. Bern: Haupt.
- Kiener, U. & Gonon, Ph. (1998). Die Berufsmatur als Fallbeispiel schweizerischer Bildungspolitik. Chur: Rüegger.
- Kost, J. (2018). Erreichte und verpasste Anschlüsse – Zur Durchlässigkeit der Schweizerischen Sekundarstufe II. Bielefeld: W. Bertelsmann.
- Oesch, D. (2017). Potenzielle und realisierte Durchlässigkeit in gegliederten Bildungssystemen. Eine lokalstrukturelle Übertrittsanalyse in zwei Schulsystemen. Wiesbaden: Springer.
- Stalder, B. (1999). Warum Lehrlinge ausbilden? Ausbildungsbereitschaft, Lehrstellenangebot und Bildungsreformen aus der Sicht von Lehrbetrieben des Kantons Bern. Bern: Amt für Bildungsforschung.
Zitiervorschlag
Kost, J. (2018). Wie durchlässig ist die Schweizer Berufsbildung wirklich?. Transfer. Berufsbildung in Forschung und Praxis 3(1).