Berufsbildung in Forschung und Praxis
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Wie die Berufslehre attraktiver werden kann

­Mehr Ferien und mehr Lohn für Lernende?

Gleich zwei Ideen für die Berufsbildung wurden in den letzten Wochen in den Medien prominent diskutiert. Würden einerseits mehr Ferien und andererseits mehr Lohn die Berufslehre für Jugendliche attraktiver machen? Solche Massnahmen bedeuten auch eine Mehrbelastung für die Betriebe – ein Dilemma, aus dem man mit einem moderaten Kompromiss herausfinden könnte.


Wie gross wäre die Mehrbelastung für die Lehrbetriebe?

Zusätzliche drei Wochen Ferien würden den Durchschnitt der Nettonutzen somit zwar fast auf null reduzieren, aber es entstünden im Schnitt weiterhin keine Nettokosten für die Betriebe.

Acht statt fünf Wochen Ferien für Lernende fordert der Zürcher Stadtrat Filippo Leutenegger[1]. Sie sollen einen Ausgleich herstellen zu den rund 13 Ferienwochen, die Jugendliche in allen rein schulischen Ausbildungen geniessen. Ein solcher Ausgleich ginge jedoch finanziell gesehen zulasten der Betriebe, denen die produktive Arbeit der Lernenden während 15 Tagen pro Jahr fehlen würde. Die Kosten dafür lassen sich mit Hilfe der Kosten-Nutzen-Erhebungen abschätzen, die wir an der EHB durchführen: Pro Anwesenheitstag erarbeiten Schweizer Lernende 213 Franken für ihren Lehrbetrieb. Zwar sparen die Betriebe sich auch die Betreuung der Lernenden während den zusätzlichen freien Tagen, allerdings müssen die Lernenden bis Ende der Lehrzeit trotzdem alle Kompetenzen erwerben, die im Bildungsplan festgelegt sind. Es ist also unklar, ob und wie viel Ausbildungsaufwand die Betriebe einsparen könnten.

Rechnet man nur die ausfallenden Erträge aus der Arbeit der Lernenden hoch, ergeben sich Ausfälle von 3’200 Franken pro Lehrjahr oder 9’600 Franken über drei Lehrjahre hinweg. Dies entspricht fast genau dem Nettonutzen von 10’400 Franken, den Lehrbetriebe in der Schweiz im Durchschnitt mit der Ausbildung von Lernenden erzielen.[2] Zusätzliche drei Wochen Ferien würden den Durchschnitt der Nettonutzen somit zwar fast auf null reduzieren, aber es entstünden im Schnitt weiterhin keine Nettokosten für die Betriebe. Dabei ist zudem nicht eingerechnet, dass bereits heute einige Lehrbetriebe freiwillig mehr Ferien geben. Ebenso zu berücksichtigen wäre, dass besser erholte Lernende weniger krank sein dürften, was wiederum dem Betrieb zugutekommt.

Eine ähnliche Rechnung lässt sich für die zweite Idee anstellen, die der CEO von Bell, Lorenz Wyss, vor kurzem lancierte[3]: Er möchte Lernenden mit den Lehrjahren steigende Löhne von 2’000, 3’000 und 4’200 Franken zahlen (inkl. Leistungskomponente). Laut der Kosten-Nutzen-Erhebung zum Lehrjahr 2016/17 betrugen die mittleren Monatslöhne von Lernenden in dreijährigen Ausbildungen 750, 940 und 1’250 Franken[4]. Solche Löhne sind laut Lorenz Wyss nicht mehr zeitgemäss. Auch hier entstünden somit Mehrkosten für die Lehrbetriebe: Bei einer flächendeckenden Einführung betrügen die Mehrkosten im Vergleich zu den genannten Löhnen für drei Lehrjahre (bei 13 Monatslöhnen) über 80’000 Franken. In keinem Lehrberuf erzielen die Betriebe mit ihrer Ausbildung im Durchschnitt heute einen derart hohen Nettonutzen. Für viele Betriebe wären solche Mehrkosten kaum tragbar, so dass sie vermutlich nicht mehr bereit wären, Lernende auszubilden. Allerdings gilt auch hier: Viele Betriebe bezahlen bereits heute Lehrlingslöhne, die über dem Durchschnitt und über den Branchenempfehlungen liegen. Je grösser der Mangel an guten Bewerberinnen und Bewerbern, desto wahrscheinlicher wird es, dass die Betriebe künftig die Löhne auch ohne verpflichtende Vorgaben anheben.

Attraktivität der Lehre für die Jugendlichen

Ferien und Lohn sind nur zwei Aspekte unter vielen, die zu guten Ausbildungs- und Arbeitsbedingungen beitragen und Lehrstellen in einer Branche beziehungsweise in einem Betrieb attraktiv machen. Insgesamt schneidet die berufliche Grundbildung im Urteil der Lernenden im Vergleich zu allgemeinbildenden Schulen heute gut ab: Befragungen zeigen, dass Lernende zu Lehrbeginn in den Lehrbetrieben eine höhere Anstrengungsbereitschaft aufweisen als Schülerinnen und Schüler in der allgemeinbildenden Schule[5] und dass die Leistungsmotivation der Lernenden auch während der Lehre höher bleibt.[6] Auch der Anteil an Jugendlichen, die mit ihrer Ausbildung auf Sekundarstufe II sehr zufrieden sind, ist in der beruflichen Grundbildung mit EFZ am höchsten.[7] Schliesslich bildet eine gute Ausbildung das Fundament für die günstigen Laufbahnaussichten, die eine Berufslehre bietet.[8]

Trotzdem gibt es aus der Sicht der Lernenden noch Luft nach oben. Das zeigen beispielsweise Studien mit Jugendlichen, die einen Lehrabbruch erlebt haben[9] oder die direkt nach deren Befindlichkeit fragen[10]: Nicht überall sind die Ausbildungs- und Arbeitsbedingungen optimal. Ein Beispiel hierfür, das ich als Vater beobachtete: Als mein Sohn in verschiedenen Gartenbaubetrieben schnupperte, wurde die tägliche Arbeitszeit unterschiedlich berechnet. Die abendliche Rückfahrt vom Kunden zum Magazin zählte in manchen Betrieben zur Arbeitszeit, in manchen dagegen nicht, Feierabendstau hin oder her. Eine solche Praxis verstösst zwar gegen das Gesetz, doch können sich gerade junge Menschen schwer dagegen wehren.

Welchen Beitrag leisten mehr Ferien und mehr Lohn?

Jugendliche befinden sich in einer kritischen Entwicklungsphase, in der sie viel Erholung und Schlaf benötigen. Die Belastung in der Berufslehre durch Arbeit im Betrieb, schulischen Unterricht und Lernen in der Freizeit ist beträchtlich.

Jugendliche befinden sich in einer kritischen Entwicklungsphase, in der sie viel Erholung und Schlaf benötigen. Die Belastung in der Berufslehre durch Arbeit im Betrieb, schulischen Unterricht und Lernen in der Freizeit ist beträchtlich. Es erscheint deshalb plausibel, dass mehr Ferientage jugendlichen Lernenden zu mehr Erholung verhelfen würden. Wie erwähnt entgeht den Betrieben zwar ein gewisser Ertrag aus der produktiven Arbeit der Lernenden, doch käme eine mögliche Reduktion der Krankheitstage auch ihnen zugute. Dazu kommt, dass vermehrte soziale Interaktionen mit Gleichaltrigen in der Adoleszenz einen wichtigen Entwicklungsschritt auf dem Weg zum Erwachsenwerden darstellen. Mehr Ferien gäben mehr Spielraum für soziale Aktivitäten, gerade auch mit Kolleginnen und Kollegen, die schulische Ausbildungen mit deutlich mehr Ferien gewählt haben.

Manche Lehrbetriebe bieten freiwillig mehr Ferien an, gemäss der Kosten-Nutzen-Erhebung trifft das auf rund einen Viertel der Betriebe zu. In anderen ist hingegen auch der Bezug der Ferien eingeschränkt: In gewissen Branchen müssen die Lernenden einen Teil ihrer Ferientage zwingend während der Betriebsferien beziehen. Bei den Gärtnerinnen und Gärtnern etwa betrifft dies meist die Weihnachts- und Neujahrswoche, so dass von fünf Ferienwochen für den Rest des Jahres noch drei Wochen übrigbleiben, was die eingeschränkten Erholungsmöglichkeiten verschärft.

Der Lohn steht für die meisten Jugendlichen nicht zuoberst auf der Liste der wichtigsten Eigenschaften einer Lehre.[11] Das bedeutet nicht, dass er keine Rolle spielt, doch sind ihnen andere Aspekte wie respektiert zu werden, das Arbeitsklima und abwechslungsreiche Tätigkeiten wichtiger. Den Betrieben eröffnet dies die Möglichkeit, mit einem Fokus auf solche Aspekte ihre Attraktivität stärker und/oder günstiger zu steigern als mit deutlich höheren Löhnen.

Fazit

Nur wenn die Verbundpartner den Interessen und Bedürfnissen der Jugendlichen entgegenkommen, neben jenen der Betriebe, kann sich die Berufslehre im Vergleich mit den verschiedenen vollschulischen Ausbildungen als attraktiver Bildungsweg behaupten.

Wichtigster Ansatzpunkt für eine attraktive Lehre ist eine hohe Ausbildungsqualität im Betrieb (und ebenso in der Schule), zusammen mit guten Arbeitsbedingungen. Eine massvolle generelle Erhöhung der Ferien, zum Beispiel um eine Woche, würde mässige Ertragsausfälle für die Betriebe bedeuten und einen Beitrag leisten, um den Jugendlichen mehr Erholung zu ermöglichen. Da die Lernenden vor allem gegen Ende der Lehre sehr produktiv sind, erscheint zudem ein degressives Modell sinnvoll, beispielsweise mit sechs Wochen Ferien im ersten Lehrjahr und danach fünf. Dies würde auch den Jugendlichen einen etwas sanfteren Übergang in die Arbeitswelt erlauben. Eine generelle Erhöhung der Ferien um drei Wochen pro Jahr schränkt dagegen den Spielraum mancher Betriebe vermutlich über Gebühr ein. Das gälte erst recht für Mindestlohnvorgaben, die rasch hohe Mehrkosten für die Betriebe bedeuten und die etwa in Deutschland bislang keine sichtbare Attraktivitätssteigerung der Berufslehre bewirkt haben.

Lässt man den Betrieben einen grossen Spielraum in der Ausbildung, wie es heute der Fall ist, stehen sie allerdings auch in der Pflicht, den jungen Lernenden einen behutsamen Einstieg ins Arbeitsleben und eine qualitativ hochstehende Ausbildung zu ermöglichen. Entsprechend sollten sie sinnvolle Anpassungen laufend prüfen und umsetzen. Betriebe und Verbände tragen als Verbundpartner eine Mitverantwortung für die Berufsbildung, die über eine Vertretung der eigenen Interessen hinausgeht. Ihr Einsatz für eine auch für die Jugendlichen attraktive Berufslehre ist entscheidend. Nur wenn die Verbundpartner den Interessen und Bedürfnissen der Jugendlichen entgegenkommen, neben jenen der Betriebe, kann sich die Berufslehre im Vergleich mit den verschiedenen vollschulischen Ausbildungen als attraktiver Bildungsweg behaupten.

[1]«Lehrlinge sollten acht Wochen Ferien haben» – 20 Minuten
[2] Lohnt sich die Lehrlingsausbildung für die Betriebe? | Eidgenössische Hochschule für Berufsbildung EHB
[3] Mögliche Revolution im Arbeitsmarkt: Über 4000 Franken im dritten Lehrjahr: Bell-CEO will Löhne massiv erhöhen | Basler Zeitung (bazonline.ch)
[4] Lohnt sich die Lehrlingsausbildung für die Betriebe? | Eidgenössische Hochschule für Berufsbildung EHB
[5] Transfer. Wenn die Lernumwelt passt, steigt die Anstrengungsbereitschaft
[6] Transfer. Die duale Berufsbildung fördert die Leistungsmotivation
[7] Newsletter_TREE_K2_T3_DE_ger.pdf (unibe.ch)
[8] Eine Berufsausbildung lohnt sich noch immer – Die Volkswirtschaft
[9] Wer eine Lehre abbricht, hat dafür oft mehrere Gründe (edudoc.ch)
[10] Transfer. Ausbildungsbedingungen aus der Sicht von Lernenden
[11] Wie zufrieden sind Lernende in der Schweiz? (Umfrage 2019) (professional.ch)
Zitiervorschlag

Schweri, J. (2023). ­Mehr Ferien und mehr Lohn für Lernende?. Transfer. Berufsbildung in Forschung und Praxis 8(13).

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