Berufsbildung in Forschung und Praxis
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Kolumne von Dieter Euler

Verhindern digitale Medien die Entwicklung von Lesekompetenzen?

Gefährden digitale Medien die Lesekompetenzen von Jugendlichen? Die Frage verlangt nach einer differenzierten Antwort. Während das Lesen auf bzw. mit digitalen Medien primär der Suche von relevanten Informationen oder dem Vergnügen dient, erfordert das verstehende Lesen eine andere Haltung – Konzentration, Anstrengung und begleitende Techniken des Behaltens und Strukturierens.


Die in einem dreijährigen Turnus erscheinende PISA-Studie zeigte zuletzt, dass die 15-jährigen Schweizer bei den Lesefähigkeiten nicht gut abschneiden. Sie rangieren im internationalen Vergleich nur im hinteren Mittelfeld. Eine Kernaussage: Mehr als 20 Prozent der Lernenden erreichen nicht die Mindestkompetenzen im Lesen und sind nicht in der Lage, einen einfachen Text in den Grundzügen zu verstehen. Für die Berufslehre ist dies aber bedeutsam, da entsprechende Lesekompetenzen in vielen Berufen vorausgesetzt werden.

Digitales Lesen erfolgt zumeist durch Überflieger, das heisst, die Texte werden eher gescannt als dass sie bewusst und aufmerksam studiert werden.

PISA liefert zunächst lediglich eine Beschreibung. Die Studie selbst gibt keine Erklärung für die Situation ab und kann demzufolge auch keine begründeten Empfehlungen an diejenigen formulieren, die diese Situation verbessern möchten. Insofern erstaunt es nicht, dass die Suche nach Erklärungen in Medien und Öffentlichkeit an unterschiedlichen Punkten ansetzt. Während die einen die zentrale Ursache in familiären Erziehungsbedingungen mit den unterschiedlichen Formen der Hinführung der Kinder zu Büchern und Leseerlebnissen sehen, betonen die anderen aktuelle gesellschaftliche Rahmenbedingungen wie etwa den Einfluss der digitalen Medien. Die Bildhaftigkeit der Informationsdarstellung auf den Bildschirmen eines Smartphones, Tablets oder Laptops führten dazu, dass das Lesen von längeren Texten schnell die Konzentrationsfähigkeit der Jugendlichen erschöpft. Und in der Tat scheinen die digitalen Medien die Kontexte für das Lesen von Informationen verändert zu haben. Gedruckte Bücher wandern in die Speicher der digitalen Allzweckinstrumente und werden bestenfalls als E-Books rezipiert, Zeitungen und Zeitschriften verschwinden aus den Regalen. Die gedruckte Encylopædia Britannica wurde 2012 nach 244 Jahren eingestellt, der deutsche Brockhaus folgte kurz darauf. Inwieweit Wikipedia diese Lücken zu füllen vermag, wird dabei durchaus kontrovers diskutiert.

Die Beispiele dokumentieren zum einen den Übergang von analogen zu digitalen Medien. Sie zeigen zum anderen aber auch, dass Lesen in diesem Transformationsprozess nicht überflüssig wird. Im Gegenteil: Wir werden überflutet von (Schrift-)Informationen, beispielsweise beim Zugriff auf Internetinformationen oder beim Erfassen von Informationen aus E-Mails und sozialen Medien. Das Gros der Lesezeiten verbringen zunehmend mehr Menschen am Bildschirm. Zugleich weisen Befunde aus der Leseforschung darauf hin, dass wir anspruchsvollere Texte schlechter verstehen, wenn wir sie digital lesen. Digitales Lesen geschieht schneller, sprunghafter und weniger sorgfältig.

Digitales Lesen erfolgt zumeist durch Überflieger, d.h., die Texte werden eher gescannt als dass sie bewusst und aufmerksam studiert werden. Der Text wird oberflächlich durchgekämmt nach relevanten Informationen oder einem bestimmten Inhalt. Es geht aber nicht darum, hintergründige Botschaften zu erschliessen, Botschaften zwischen den Zeilen zu verstehen oder den Text kritisch einzuschätzen.

Die Ausbreitung der digitalen Medien beeinträchtigt demnach nicht unbedingt den Umfang des Lesens, wohl beeinflusst sie die Art des Lesens. Verstehendes, vertieftes und intensives Lesen ist mit digitalen Medien schwieriger zu realisieren – hier behalten die analogen Medien in Form von gedruckten Texten weiterhin ihre Bedeutung. Das verstehend-intensive Lesen von Texten mit für die Lesenden neuen Inhalten verläuft langsamer und erfordert vergleichsweise hohe kognitive Anstrengungen. Ein Studientext muss durch Rück- und Nachfragen, Zwischenresümees, Notizen u.a. erarbeitet werden, während bei einem belletristischen Text zumeist die ganzheitliche, intuitive Erschliessung im Vordergrund steht. Wer am Bildschirm zur Unterhaltung liest, muss das Gelesene nicht unbedingt behalten. Auch wenn die intensive Erarbeitung mit digitalen Medien möglich ist, so fällt dieser Prozess den meisten Lernenden doch mithilfe von haptischen Operationen an Papier und Stift leichter.

Was bedeutet dies für den Erwerb von Lesekompetenzen?

Zunächst wäre anzuerkennen, dass unterschiedliche Lesehaltungen existieren, die bei vielen Lernenden eng mit einem unterschiedlichen Medieneinsatz verbunden sind. Das Lesen auf bzw. mit digitalen Medien dient primär der Suche von relevanten Informationen, der Unterhaltung oder dem zweckfreien Vergnügen. Hier besteht die pädagogische Herausforderung darin, neben dem Handling geeigneter Tools wie etwa Suchmaschinen die gefundenen Informationen einschätzen und einordnen zu können. Dies bedingt auch Kenntnisse über die ökonomischen oder politischen Motive der Datenlieferanten. Demgegenüber bedingt das Lesen im Modus des verstehenden Lesens eine andere Haltung – diese erfordert Konzentration, Anstrengung und begleitende Techniken des Behaltens und Strukturierens.

Maryanne Wolf sieht eine Gefahr darin, dass das überfliegende Lesen die Fähigkeit zum vertieften Lesen verdrängt. Sie fordert daher die Entwicklung einer «biliteracy», einer Doppel-Alphabetisierung. Wie würde die Schweiz wohl bei einem PISA-Test abschneiden, der beide Leseformen erfasst?

Die vorliegende Kolumne erschien zuerst in Folio 4/23; wir danken dem BCH für die Abdruckerlaubnis.

Literatur

  • Wolf, Maryanne (2019). Schnelles Lesen, langsames Lesen. Warum wir das Bücherlesen nicht verlernen dürfen. Penguin Books.
Zitiervorschlag

Euler, D. (2023). Verhindern digitale Medien die Entwicklung von Lesekompetenzen?. Transfer. Berufsbildung in Forschung und Praxis 8(9).

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