Berufsbildung in Forschung und Praxis
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Diskriminierung im Berufsbildungssystem

Wie ein Problem negiert wird

Studien weisen seit längerem auf den diskriminierenden und ausschliessenden Charakter des Schweizer Berufsbildungssystem hin. Ohne dass sich diese Ausgangslage und damit die diskriminierenden Mechanismen im Lehrstellenmarkt tatsächlich verbessert hätten, geraten diese kritischen Einschätzungen zusehends in Vergessenheit. Dieser Beitrag zeichnet nach, wie diese Entwicklung zustande kam.


Im Rahmen des Nationalen Forschungsprogrammes (NFP) 43 «Bildung und Beschäftigung» veröffentlichten Haeberlin, Kronig und Imdorf Mitte der 2000er-Jahre Studien zur Benachteiligung von ausländischen und weiblichen Jugendlichen bei der Lehrstellenvergabe. Sie zeigten auf, wie diese Jugendlichen es trotz vergleichbarer Qualifikationen ungleich schwieriger hatten, eine Lehrstelle zu finden als ihre schweizerischen und männlichen Pendants. Diese Ergebnisse waren bildungspolitisch brisant und wurden auch medial thematisiert.

Lehrstellenkrise und Diskriminierung

Die Schweiz befand sich damals in einer akuten Lehrstellenkrise – es fehlte an Ausbildungsplätzen. Dies war der Höhepunkt eines Strukturwandels, der sich seit den 1990er-Jahren angebahnt hatte. Die im Rahmen des NFP 43 durchgeführte Forschung machte sichtbar, dass die wenigen Lehrstellen ungleich an Jugendliche vergeben wurde. Nach wie vor irritiert dabei, mit welcher Selbstverständlichkeit Lehrbetriebe und ihre Interessenverbände diese Diskriminierung mit fremdenfeindlichen und rassistischen Argumenten zu rechtfertigen versuchten (vgl. Imdorf 2011).

Betrachten wir die Situation der Jugendlichen heute, so tritt ähnliche Ernüchterung ein. Ihr Ausschluss bleibt mehr Regel als Ausnahme (Scharnhorst & Kammermann 2020). Das Nahtstellenbarometer, eine Studie im Auftrag des Staatsekretariats für Bildung, Forschung und Innovation (SBFI), weist darauf hin, dass sich ausländische Jugendliche mindestens doppelt so häufig für eine Lehrstellen bewerben (müssen) als Jugendliche mit Schweizer Staatsbürgerschaft. Ebenso durchdringt eine Geschlechtersegregation das Berufsbildungssystem (Grønning, Kriesi & Sacchi 2020) und seine oft gelobte Durchlässigkeit scheint – wen wundert’s – primär für Schweizer Männer zu gelten (Meyer & Sacchi 2020; Murdoch et al. 2017).

Von der Diskriminierung hin zu Gefährdung

In verschiedenen Auftragsstudien und Working Papers wurde sukzessive eine Leseart propagiert, die eher den Jugendlichen als dem Berufsbildungssystem die Schuld für den Ausschluss zuschiebt.

Wie damals bleibt die Kritik an den diskriminierenden Verhältnissen auch heute brisant und umstritten zugleich. Neu hat sich dazu aber ein wissenschaftlicher Gegendiskurs formiert, der ebendiese Kritik im Rahmen der Bildungswissenschaften zu zerstreuen versucht. Eine nicht unbedeutende Rolle spielen darin die Schweizerische Koordinationsstelle für Bildungsforschung (SKBF), die Schweizerische Konferenz der kantonalen Erziehungsdirektoren (EDK) sowie das SBFI. In verschiedenen Auftragsstudien und Working Papers wurde sukzessive eine Leseart propagiert, die eher den Jugendlichen als dem Berufsbildungssystem die Schuld für den Ausschluss zuschiebt.

Es entbehrt dabei nicht einer gewissen Tragik, dass ausgerechnet eine von der Interkantonalen Hochschule für Heilpädagogik (HfH) durchgeführte und von der EDK initiierte Auftragsstudie dieser Entwicklung Vorschub leistete. Obwohl der Fokus dieser Studie in einem Perspektivenwechsel weg von den Defiziten hin zu den Ressourcen liegt, zementiert sie das Gegenteil. In Anlehnung an den englischsprachigen Diskurs der «at-risk youth» ist nunmehr von gefährdeten und nicht mehr von diskriminierten Jugendlichen die Rede. Als gefährdet gelten diese Jugendlichen deshalb, weil ihnen mit Verweis auf «prekäre familiäre Verhältnisse (z.B. ökonomischer oder erzieherischer Art)», «schulische Probleme», die «Herkunft aus einem anderen Kulturkreis» sowie «körperliche und/oder psychische Behinderungen» Schwierigkeiten beim Einstieg in die Berufsbildung attestiert werden (Schellenberg & Häfeli, 2009, S. 15f). Auch wenn die Studie betonte, dass diese Risikofaktoren den Werdegang der Jugendlichen keineswegs bedingen, wohl aber gefährden, fördert sie trotz besserer Absicht eine deterministische Sichtweise. Kurz: Benachteiligte Jugendliche galten nunmehr aufgrund ihrer Voraussetzungen als gefährdet und nicht, weil die Betriebe und die Schulen ihnen Schwierigkeiten beim Einstieg in die Berufslehre bereiten.

Die Verneinung der Diskriminierung

Suchen wir im aktuellen Bildungsbericht der SKBF mit den Schlagworten «Diskriminierung» oder «diskriminiert», so finden sich – bezogen auf Lernende in der Berufsbildung – keine Suchergebnisse. Stattdessen ist mit Verweis auf zwei hausinterne Working Papers und ausgehend von der Prämisse der Rational-Choice Theorie von unterschiedlichen «Bildungspräferenzen» sowie einer «ausgeprägten Vorliebe für allgemeinbildender Optionen anstelle einer Berufsbildung» die Rede (SKBF, 2018, S. 106). Eine solche eindimensionale Sichtweise wäre zulässig, wenn sie auch als solche deklariert würde. Dem ist aber nicht so. Im Vorwort beschreibt die Generalsekretärin der EDK und der Staatsekretär des SBFI den Bildungsbericht als ein «Referenzwerk» für die «Bildungspolitik und die im Bildungswesen tätigen Akteure» (ebd., S. 6). Diese seien darauf angewiesen, «dass Forschungsresultate von Fachleuten aufgearbeitet werden», zumal «fast täglich» neue Studien erscheinen würde, «die gerade auch von den Medien gerne aufgegriffen und transportiert werden». Der Bildungsbericht trage dabei «jene Resultate», zusammen, die sich «als relevant und verlässlich erweisen» (ebd.).

Irritierend ist aber, wie mit keinem Wort Auskunft darüber gegeben wird, auf welcher wissenschaftlichen Grundlage die Auswahl dieser Studien zustande kam. Wie kann es aus Sicht der SKBF zulässig sein, renommierte Fachpublikationen nicht zu berücksichtigen, die Diskriminierung untersuchen (z.B. Fossati, Wilson & Bonoli, 2020, Imdorf 2017) und stattdessen einzig auf hausinterne Working Papers zu verweisen, um die These der Bildungspräferenz einzuführen? Widerspricht ein solches Vorgehen nicht wissenschaftlichen Standards?

Der «Nachhall» einer Verneinung

Nur in der Verneinung der Diskriminierung bleibt die Erzählung des Schweizer Erfolgsmodell gesichert – zum Nachteil der davon betroffenen Jugendlichen.

Nun wäre dies alles unbedeutend, sofern dieses Verneinen von Diskriminierung keine Wirkung entfalten würde. Das scheint mir aber nicht der Fall zu sein – im Gegenteil. Ohne die Bedeutung des Bildungsberichts zu überhöhen, steht er doch beispielhaft für die zuvor skizzierte Entwicklung. Zusehends verselbstständigt sich in diesem Diskurs jene unsägliche Phrase, die besagt, dass Jugendliche mit Migrationshintergrund sowie deren Eltern das Schweizer Berufsbildungssystem zu wenig kennen und anerkennen würden. Als vermeintliche wissenschaftliche Grundlage hierfür angeführt werden, wie gesagt, Working Papers der SKBF. Nichtsdestotrotz, oder vielleicht genau deshalb, scheint diese Sichtweise auch in der Beratungspraxis Nachhall zu finden und eine Logik zu legitimieren, die diesen Jugendlichen untergeordnete Lehrstellen zuspricht. Nicht von ungefähr sind Jugendliche mit Migrationshintergrund in zweijährigen Berufsausbildungen (EBA) sowie in Lehren mit geringem schulischen Anteil übervertreten (Meyer & Sacchi 2020). Nur in der Verneinung der Diskriminierung bleibt die Erzählung des Schweizer Erfolgsmodell gesichert – zum Nachteil der davon betroffenen Jugendlichen.

Dieser Beitrag erschien am 13. Juli auf dem Blog NCCR — on the move.

Literatur

Zitiervorschlag

Preite, L. (2021). Wie ein Problem negiert wird. Transfer. Berufsbildung in Forschung und Praxis 6(3).

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