Berufsbildung in Forschung und Praxis
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Entscheidungsfindung von Jugendlichen am Ende der Schule

Die Berufsmaturität als Ausbildungsalternative

Viele Jugendliche schwanken, ob sie eine Berufsmaturität (BM) in Angriff nehmen wollen. Eine neue Untersuchung untersucht diesen Entscheidungsprozess und die ausschlaggebenden, individuellen Merkmale. Sie zeigt, dass viele schulbegabte Jugendliche aus weniger privilegierten Familien ein Hochschulstudium erst durch die Möglichkeit via Berufslehre mit Berufsmaturität als realisierbar wahrnehmen.


In der Schweiz stehen Schulabgängerinnen und Schulabgänger am Ende der Sekundarstufe I vor der wichtigen Entscheidung, auf welchem Bildungsweg sie ihre nachobligatorische Ausbildung fortsetzen wollen, um einen Beruf zu erlernen und anschliessend in den Arbeitsmarkt einzutreten. Dabei stehen ihnen verschiedene Möglichkeiten offen. Neben der Berufslehre mit dem Abschluss eines eidgenössischen Fähigkeitszeugnisses (EFZ) und der gymnasialen Maturität (GM), hat sich die 1994 eingeführte Berufsmaturität (BM) als nachgefragte Ausbildungsalternative etabliert. Die zunehmende Nachfrage wird in den Daten der amtlichen Statistik sichtbar: die Anzahl an Berufsmaturitätsabschlüssen ist in den letzten beiden Jahrzehnten von absolut 2’278 (1996) auf 14’023 (2015) gestiegen. Unter den genannten Abschlüssen machte die Berufsmaturität im Jahr 2015 damit einen Anteil ca. 14% aus. Bisherige Studien zeigen für die Berufsmaturität, dass vor allem männliche Jugendliche, solche mit deutscher Erstsprache und solche aus eher niedrigen Sozialschichten diesen Abschluss erwerben (BFS 2017, Schumann 2011). Innerhalb der Berufsbildung sind es eher solche aus niedrigeren Sozialschichten, die mit einer Berufsmaturität abschliessen (Falter & Wendelspiess 2013).

Innerhalb der Berufsbildung sind es eher Jugendliche aus niedrigeren Sozialschichten, die mit einer Berufsmaturität abschliessen

Befragung von 3000 Jugendlichen

Allerdings war die Berufsmaturität bisher kaum oder nur teilweise zentraler Gegenstand von Untersuchungen in der Schweizer Bildungsforschung. Der Stellenwert der Berufsmaturität beim Übergang in die nachobligatorische Bildung und die Erklärung sozial selektiver Übergangsmuster an diesem Übergang stehen im Mittelpunkt des von der Autorin kürzlich erschienen Buches (Jäpel 2017). Er stellt die Berufsmaturität in den Mittelpunkt und diese den beiden gängigsten nachobligatorischen Abschlüssen (EFZ und gymnasiale Maturität) gegenüber. Dabei stehen folgende Fragen im Mittelpunkt: Wie verläuft der Entscheidungsprozess in den letzten beiden Schuljahren der Sekundarstufe I, welche Rolle spielt dabei die Berufsmaturität als Ausbildungsalternative und welche Merkmale erklären selektive (Aus-)Bildungentscheidungen von Jugendlichen?

Die theoretische Basis wird in einem strukturell-individualistischen Analysemodell abgebildet, das zum einen subjektive Kosten-Nutzen-Abwägungen der verschiedenen Sek-II-Abschlüsse einschliesst und zum anderen individuelle Persönlichkeitseigenschaften und berufliche Präferenzen berücksichtigt. Die Analysen beruhen auf den Daten der DAB-Panelstudie (Determinanten der Ausbildungswahl und der Berufsbildungschancen), welche die Übertritte von mehr als 3000 Sekundarschülerinnen und Sekundarschülern der Schulabgangskohorte 2013 für die deutschsprachige Schweiz untersucht hat.1 Die Längsschnittdaten erlauben es, den Entscheidungsprozess in den letzten beiden Schuljahren der Sekundarstufe I abzubilden und beinhalten zudem detaillierte Informationen zu den interessierenden individuellen Merkmalen.2

Um der Frage nach dem Verlauf des Entscheidungsprozesses nachzugehen, wurden die Angaben der befragten Jugendlichen zu Beginn der achten Klasse (Welle 1), zu Beginn der neunten Klasse (Welle 2) und am Ende der neunten Klasse (Welle 3) kurz vor Ende der obligatorischen Schulzeit zusammengefasst, gewichtet (bei den verwendeten Gewichten handelt es sich um Hochrechnungsgewichte, die in der Summe der Gesamtheit aller Jugendlichen der Zielpopulation entsprechen) und in eine Verlaufsgrafik überführt (Abbildung).

Abb. 1: Verlauf der Ausbildungsabsichten in den letzten beiden Schuljahren der Sekundarstufe I

Die BM als wichtige Alternative

Die meisten Jugendlichen bewegen sich zwischen zwei Alternativen: zwischen einer Berufslehre mit und einer ohne Berufsmaturität oder zwischen Berufsmaturität und gymnasialer Maturität.

Zusammenfassend zeigt sich, dass ein grosser Teil der Jugendlichen bereits in der achten Klasse (was einem Alter von ca. 14 Jahren und damit einem Zeitpunkt mitten im Reifeprozess entspricht) eine mehr oder weniger definitive Entscheidung für ihren weiteren Ausbildungsweg fällen (müssen). Auf der anderen Seite gibt es Jugendliche, die noch unentschlossen sind oder sich aus anderen Gründen umentscheiden. Ein kleinerer Teil der Jugendlichen entscheidet sich für einen anderen, nicht-zertifizierenden Weg oder ist noch völlig unentschlossen. Es wird deutlich, dass die Berufsmaturität durch ihre Position zwischen beruflicher und allgemeinbildender Ausbildung in diesem Abwägungs- und Entscheidungsprozess eine zentrale Rolle spielt. Der Grossteil an Wechseln aus der Allgemeinbildung in die Berufsbildung entfällt auf einen Weg, der zur Berufsmaturität führt (lehrbegleitende und an eine Lehre anschliessende BM sind hier zusammengefasst). Ausserdem zeigen sich auch innerhalb der Berufsbildung noch in den letzten beiden Jahren vor dem Eintritt in die Sekundarstufe II Verschiebungen zwischen der traditionellen Lehre mit Abschluss EFZ und einer solchen mit (lehrbegleitender oder anschliessender) Berufsmaturität. Durch die Darstellung wird deutlich, dass sich die meisten Jugendlichen zwischen zwei Alternativen bewegen: zwischen einer Berufslehre mit und einer ohne Berufsmaturität oder zwischen Berufsmaturität und gymnasialer Maturität. Die Zu- und Abströme aus der und zur BM fallen je nach Kategorie sehr unterschiedlich aus. Das könnte daran liegen, dass hier neben den individuellen Merkmalen zusätzlich verschiedene, insbesondere auch formale und äussere, Faktoren die Zugangschancen beeinflussen. Diese äusseren Restriktionen werden von den Jugendlichen bereits antizipiert. Für den Besuch eines Gymnasiums müssen sie beispielsweise die entsprechenden Noten bereits frühzeitig erreichen und sich für die Zugangsprüfung anmelden. Aufgrund der bisherigen Leistungen haben diese Jugendlichen konkrete Anhaltspunkte ihre Chancen betreffend und sind in ihrer Wahl stabiler. Dies gilt in ähnlicher Weise auch für die BMS, jedoch kommt hier die Zustimmung des Lehrbetriebs hinzu. So könnte es durchaus sein, dass Jugendliche auf eine BM2 ausweichen müssen (siehe die 53 % aus dem Lesebeispiel), weil sie keine Lehrstelle finden, die ihnen eine BM1 ermöglicht.

Was die Entscheidungen beeinflusst

Jugendliche wollen dann eine Berufsmaturität machen, wenn sie davon ausgehen, dass sie dieser Weg zu ihrem favorisierten Berufsabschluss führt – zum Beispiel über ein Studium an einer Fachhochschule.

Der Frage nach den Einflussfaktoren auf die Entscheidung der Jugendlichen für oder gegen eine Berufsmaturität wird in den multivariaten Analysen nachgegangen. Dabei zeigt sich, dass der in der Sekundarstufe I besuchte Schultyp einen erheblichen Einfluss auf die Präferenz für eine Ausbildungsalternative hat. Er definiert – zusammen mit den Schulnoten – das Alternativenspektrum, innerhalb dessen sich individuelle Ausbildungsabsichten formieren und Bildungsentscheidungen getroffen werden (können).

Jedoch erklären Schulform- und Leistungsmerkmale alleine nur einen Teil der beobachteten divergierenden Bildungsentscheidungen. Der am Übergang von der Sekundarstufe I in die Sekundarstufe II favorisierte Bildungsabschluss steht in einem engen Zusammenhang mit weiteren individuellen Merkmalen der Befragten, wobei die Erklärung des Einflusses unterschiedliche sozialer Herkunftslagen (Berufspositionen und Bildung der Eltern) im Mittelpunkt steht. Der soziale Status der Herkunftsfamilie erklärt die Präferenz der Sekundarschülerinnen und -schüler für eine bestimmte Ausbildungsalternative nicht direkt, sondern er wirkt vielmehr über deren Wunschberuf und über unterschiedliche milieuspezifische Entscheidungslogiken. Das wird darin deutlich, dass der favorisierte Bildungsabschluss in einem hoch signifikanten Zusammenhang mit den Berufsvorstellungen der Jugendlichen steht. Deren Berufswunsch wirkt sich bereits zu Beginn der neunten Klasse insofern signifikant auf die Entscheidung zwischen zwei Bildungsalternativen aus, als dass die Entscheidung zu Gunsten der Alternative fällt, die zum Wunschberuf führt.

Anders ausgedrückt heisst das, dass Jugendliche dann eine Berufsmaturität machen wollen, wenn sie davon ausgehen, dass sie dieser Weg zu ihrem favorisierten Berufsabschluss führt – zum Beispiel über ein Studium an einer Fachhochschule. Es bedeutet allerdings auch, dass Jugendliche, die eine allgemeine Maturität einer Berufsmaturität vorziehen, dies unter anderem deshalb tun, weil sie ihren Wunschberuf nur über Studium an einer Universität/ETH erlernen können, wofür die Maturität nach wie vor den direkten Weg darstellt. Die Möglichkeit der Passarelle wird bisher nur von sehr wenigen BM-AbsolventInnen (weniger als 5 %) genutzt.

Neben dem Aspekt des Wunschberufes wirken auf der Persönlichkeitsebene der zeitliche Planungshorizont und die individuelle Kontrollüberzeugung auf den Entscheidungsprozess. Das zeigt sich in zweifacher Hinsicht. Zum einen darin, dass schulbegabte Jugendlichen aus weniger privilegierten Familien den Erwerb einer Hochschulberechtigung erst durch die Möglichkeit via Berufslehre mit Berufsmaturität als realisierbar wahrnehmen. Dies lässt sich unter anderem darauf zurückführen, dass diesen Bevölkerungsschichten der berufsbildende Weg vertrauter ist, weniger aufwendig und sicherer erscheint. Zum anderen bietet die Berufsmaturität eher praktisch begabten Jugendlichen aus privilegierteren Familien eine Alternative zur gymnasialen Maturität und somit die Möglichkeit, im Fall von für den allgemeinbildenden Weg nicht ausreichenden schulischen Leistungen den berufsbildenden Weg zu wählen und dort mit dem Erwerb der Berufsmaturität den Zugang zum Hochschulstudium realisieren, das ihnen ihren Wunschberuf ermöglicht.

Aus den Ergebnissen kann man schlussfolgern, dass mit der Berufsmaturität eine Ausbildungsalternative geschaffen wurde, die verschiedene InteressentInnengruppen anspricht, der es gelingt, die Durchlässigkeit zwischen Berufsbildung und Allgemeinbildung zu erhöhen und dabei neue Bildungswege für bisher benachteiligte Jugendliche anzubieten. Jedoch kann mit den vorliegenden Daten und Untersuchungen nicht abschliessend erklärt werden, warum genau sich bestimmte Jugendliche für eine Berufsmaturität entscheiden und andere nicht. Insbesondere die Einstellung der Lehrbetriebe zum Besuch der BMS, die Wahrnehmung der Berufsmaturität aus Sicht aspirierender Gymnasiasten und der weitere Bildungsverlauf von BM-AbsolventInnen sollten noch genauer untersucht werden.

1 www.dab.edu.unibe.ch/
2 Die verwendeten Daten (Erhebungswellen 1-3) sind bei FORS als Scientific-Use-Files verfügbar.

Literatur

  • BFS (2017): Ausgewählt Bildungsabschlüsse, Entwicklung. Neuchâtel, Bundesamt für Statistik
  • Glauser D (2015): Berufsausbildung oder Allgemeinbildung. Soziale Ungleichheiten beim Übergang in die Sekundarstufe II in der Schweiz. Springer VS, Wiesbaden
  • Falter J-M, & Wendelspiess Chávez Juárez, F (2013): Professional matura as inequality reducing measure? In: Working Paper, S. 1–21.
  • Jäpel F (2017): Die Berufsmaturität als Ausbildungsalternative. Einflussfaktoren individueller Bildungsentscheidungen am Übergang in die nachobligatorische Ausbildung. Haupt, Bern
  • Schumann S (2011): Leistungs- und Herkunftseffekte beim Hochschulzugang in der Schweiz. In: Zeitschrift für Pädagogik 57(2), 246-268
Zitiervorschlag

Jäpel, F. (2017). Die Berufsmaturität als Ausbildungsalternative. Transfer. Berufsbildung in Forschung und Praxis 2(2).

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