Berufsbildung in Forschung und Praxis
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Swisscom rekrutiert Jugendliche über Videointerviews

«Mensch vor Dossier»: Erste Erfahrungen

Wer bei Swisscom eine Lehre absolvieren möchte, braucht für die Bewerbung seit einem Jahr kein Dossier mehr vorzuzeigen. Stattdessen präsentieren sich die Jugendlichen in einem ersten Schritt über ein zeitversetztes Videointerview. Im Gespräch mit Transfer zieht Marc Marthaler, Head of Next Generation bei Swisscom, eine erste, positive Bilanz des auf zwei Jahre geplanten Pilotprojekts «Mensch vor Dossier». In manchen Berufen waren die Lehrstellen schon recht rasch besetzt. Jugendliche haben ab 1. August die Möglichkeit, sich für die Ausbildungsplätze von 2024 zu bewerben.


So funktioniert die Selektion von Lernenden bei Swisscom

Swisscom hat in der Vergangenheit für 250 Lehrstellen jeweils rund 8000 Bewerbungen erhalten. Der Selektionsaufwand war erheblich, und viele Bewerbende passten nicht zum Unternehmen und seinem Ausbildungsmodell. Zudem erhielten Kandidatinnen und Kandidaten mit womöglich guter Passung (aber schlechtem Dossier) keine Chance, während andere Jugendliche zwar beeindruckende, aber nicht zu ihrer Persönlichkeit passende Dossiers einreichten.

Wer sich heute bei Swisscom für eine Lehrstelle bewirbt, tut dies in einem ersten Schritt über ein zeitversetztes Videointerview. Bei der Anmeldung bestätigen die Jugendlichen, dass sie das Anforderungsprofil ihres Wunschberufs erfüllen. Im Interview erhalten sie dann fünf Fragen. Diese beziehen sich auf die Person, ihre Werte sowie die Auseinandersetzung mit dem Beruf und dem Unternehmen. Für die Vorbereitung haben sie jeweils eine Minute Zeit, für die Antwort zwei. Eine Rückmeldung muss innerhalb von drei Tagen erfolgen.

Die Romandie, das Tessin und der Beruf der Detailhandelsfachleute sind nicht Teil des Pilotprojektes.

Die eingereichten Videos werden von mindestens zwei Personen unabhängig voneinander beurteilt und passende Bewerbende zu einen «NEX-Day» eingeladen. Hier bearbeiten die jungen Leute verschiedene Aufgaben – ein Einzelgespräch, eine Aufgabe im Team oder eine Arbeit entlang des gewählten Lehrberufes. So lernt das Unternehmen die jungen Menschen in unterschiedlichen, alltagsnahen Kontexten kennen und erlebt dabei auch ihre Fähigkeiten und Motivation.

Marc Marthaler ist Head of Next Generation bei Swisscom.

Marc Marthaler, Swisscom wählt junge Lernende seit einem Jahr nach dem Prinzip «Mensch vor Dossier» aus. Wie gut hat das funktioniert?

Wir können noch nicht sagen, wie gut sich die rund 150 selektionierten Jugendlichen in der Lehre bewähren; sie beginnen ja erst im August bei uns zu arbeiten. Die aufwändige Organisation und Planung im Vorfeld haben sich aber auf jeden Fall gelohnt. Die Prozesse und Abläufe haben funktioniert, sowohl bei den Videointerviews als auch bei den NEX-Days. Und wir haben ganz viele motivierte und engagierte Menschen kennengelernt und anstellen können.

Ein Ziel Ihres Projektes war es, Ihren Rekrutierungsaufwand zu vermindern. Ziel erreicht?

Effizienter zu sein war ein sekundäres Ziel. Wir haben dies aber überprüft, und das Ergebnis ist über das Ganze gesehen positiv. Die Auswertung der Video-Interviews hat uns im Vergleich zur Bewertung von Dossiers weniger Aufwand gemacht, während die Durchführung der NEX-Days aufwändiger als die bisherigen Interviews war. Bei dieser Bilanz ist der einmalige Aufwand zur Konzeption und Entwicklung des Verfahrens nicht berücksichtigt.

Haben sich weniger Jugendliche als früher für eine Lehrstelle beworben?

In einzelnen Berufen lagen schon rasch genügend gute Bewerbungen vor und wir konnten das Verfahren abschliessen.

Ja. Das liegt auch daran, dass in einzelnen Berufen schon rasch genügend gute Bewerbungen vorlagen und wir das Verfahren abschliessen konnten. Ein Beispiel sind die Mediamatikerinnen und Mediamatiker, ein anderes Beispiel die Interactive Media Designer, wo wir relativ wenige Lehrstellen anbieten. Die Rekrutierung war hier schon nach einer Woche «on hold», also vorerst abgeschlossen (und mit einem Datum einer allfälligen, erneuten Ausschreibung versehen). Insgesamt war die Rekrutierung von Lernenden noch im alten Jahr abgeschlossen. Das gilt nicht für die Lehrstellen in der Romandie und im Tessin sowie im Detailhandel, wo wir anders als im Pilotprojekt rekrutieren.

Haben Sie Hinweise, dass sich Jugendliche die Fragen im Videochat vorgängig zugesteckt haben?

Wir wissen das nicht. Wir selber haben die Fragen nicht kommuniziert, aber es ist natürlich gut möglich, dass dies andere taten. Aber die Fragen sind so gestellt, dass sie mit mehr Zeit nicht unbedingt besser beantwortet werden können. Wir stellen ja keine Wissensfragen.

Wie lauteten die Fragen denn? Können Sie ein Beispiel nennen?

Die Fragen basieren auf unseren Unternehmenswerten und fokussieren auf die Person, deren Verhalten sowie der Auseinandersetzung mit dem Beruf und dem Unternehmen.

Wie gut sind die NEX-Days verlaufen?

Wir haben über 50% der Jugendlichen, die wir zu einem der NEX-Days eingeladen haben, unter Vertrag genommen – insgesamt ca. 150 Personen. Aus meiner Sicht eine erfreuliche Quote. Ich war als einer von vier Moderatoren an den NEX-Days aktiv und vom Auftritt der Jugendlichen sehr beeindruckt. Grossartig war auch die hohe Professionalität meiner Kolleginnen und Kollegen, die verpflichtet waren, ihre Eindrücke an Beobachtungen festzumachen. Redewendungen wie «Ich habe das Gefühl» waren verboten, gefordert war: «Ich habe beobachtet».

Haben Sie Lernende verpasst, die sich nicht im Video zeigen wollten?

Davon gehe ich aus. Das perfekte Rekrutierungsverfahren gibt es nicht. Ich bin überzeugt, dass wir junge Menschen angestellt haben, die wir mit dem bisherigen System auch angestellt hätten. Aber wir haben sicher auch Leute entdeckt und angestellt, die wir mit dem bisherigen System nicht gefunden hätten und umgekehrt junge Menschen nicht angestellt, die wir mit dem bisherigen System angestellt hätten.

Ist das Verfahren gerechter als die Selektion über Dossiers?

Wir bemühen uns, bei der Selektion von neuen Lernenden mehr als bisher individuelle Voraussetzungen zu würdigen – equity statt equality.

Gerechtigkeit ist ein schwieriger Begriff. Aber wir bemühen uns, bei der Selektion von neuen Lernenden mehr als bisher individuelle Voraussetzungen zu würdigen – equity statt equality. Und wir glauben, mit unserem Verfahren besser als bisher Kompetenzen erkennen zu können, die in Zukunft wichtig sein werden. Future Skills bilden sich nicht ausschliesslich in Notenspiegeln ab. Neben Noten ist auch die Persönlichkeit wichtig.

Gibt es Dinge, die Ihnen Sorge machen?

Wir sind in der privilegierten Lage, viele Interessentinnen und Interessenten zu haben. Das bedeutet umgekehrt, dass wir viele begabte Jugendliche nicht berücksichtigen können. Da spielt der Faktor Zeit eine Rolle: Ab 1. August findet ein Run auf die Lehrstellen statt. Ich finde das nicht toll, aber ich kann das auch nicht verhindern.

Sie haben immer betont, dass das Selektionsverfahren den Bedürfnissen der Swisscom entspreche und es vermieden, verallgemeinernde Aussagen zu machen. Trotzdem die Frage: Welchen Firmen würden Sie empfehlen, ihr Rekrutierungsverfahren zu prüfen?

Da sage ich mit einem Augenzwinkern: Allen! Im Ernst: Ich glaube, dass die stetige Transformation der Wirtschaft viele Unternehmen zwingt, ständig Prozesse gezielt zu hinterfragen und anzupassen, nicht nur im Bereich der Rekrutierung. Wir haben intensive Diskussionen darüber geführt, welches die Skills der Zukunft sind. Es sind dies fachliche Kompetenzen, aber in zunehmendem Masse auch überfachliche Kompetenzen wie z.B. Problemlösefähigkeit, Kommunikation, Flexibilität. Mit unserem Rekrutierungsverfahren glauben wir, diese Skills besser zu erfassen als über die Dossiers.

Zitiervorschlag

Fleischmann, D. (2023). «Mensch vor Dossier»: Erste Erfahrungen. Transfer. Berufsbildung in Forschung und Praxis 8(8).

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